„Stadt tut nichts, um zu helfen“Der mühsame Weg von Jean-Pierre M. zurück ins Leben

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Jean-Pierre M.

Bernard Duchemin (l.) hilft Jean-Pierre M., wo er kann. 

  • Es war eine schlimme Tat, die viele Kölner schockierte: Anfang Mai traten zwei Jugendliche einen Obdachlosen so brutal zu Boden, dass dieser tagelang um sein Leben rang.
  • Knapp zwei Monate später kann Jean-Pierre M. wieder aufrecht sitzen, sogar ein paar Schritte gehen. Von Normalität ist er aber weit entfernt.
  • Nun erhebt M.'s Anwalt Andreas Mertens Vorwürfe gegen die Stadt Köln.

Köln – Seine Bewegungen sind langsam, das Sprechen fällt ihm schwer. Fragen beantwortet er entweder gar nicht, oder nur einsilbig und stark verzögert. Die Folgen einer Hirnblutung und zweier schwerer Operationen. Fast eine Woche hat Jean-Pierre M. im künstlichen Koma gelegen.

Als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ den 68-Jährigen am Dienstag im Krankenhaus besucht, ist ein Gespräch nicht möglich. Immerhin: Nach wochenlangem Liegen kann M. inzwischen wieder aufrecht sitzen. Mit Unterstützung einer Krankenpflegerin schafft er sogar ein paar Schritte über den Krankenhausflur.

Über den Moment, der sein Leben vor knapp zwei Monaten dramatisch verändert hat, hat der ehemalige Profi-Jockey bislang nicht gesprochen. Es ist ungewiss, ob er sich überhaupt daran erinnern kann. Zwei Jugendliche hatten den seit vielen Jahren obdachlosen Franzosen an einer Haltestelle auf der Neusser Straße in Weidenpesch angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Einer der Schüler trat Jean-Pierre M. nach einem Disput in Kung-Fu-Manier zu Boden.

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Nach wochenlangem Liegen kann  M. inzwischen wieder aufrecht sitzen. Mit Unterstützung einer Krankenpflegerin schafft er  sogar ein paar Schritte über den Krankenhausflur. 

Der angetrunkene Mann kippte rückwärts, stieß mit dem Hinterkopf gegen eine Hauswand und schlug auf dem Boden auf, wo er reglos liegen blieb. Der zweite Jugendliche trat ihm noch in den Rücken. Zu sehen sind diese Szenen auf einem Handyvideo, das ein Zeuge gefilmt und ins Internet gestellt hat. 

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Nach dem Angriff liegt das Opfer wehrlos am Boden.

Die 15-Jährigen haben die Tat Tage später gestanden. Sie erwartet nun ein Jugendstrafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung. Derzeit sind die beiden auf freiem Fuß. Grund sind unter anderem ihre Geständnisse und die festen Wohnsitze. Die Schüler sollen bis zu der Tat nicht polizeibekannt gewesen sein.

Jockey und Arbeitsreiter

„Es ist unfassbar, Jean-Pierre tut mir so Leid“, sagt sein Freund Bernard Duchemin, ebenfalls ein Franzose, der heute in der Nähe von Bremen lebt. Er ist beim Besuch im Krankenhaus dabei. Die beiden Männer haben sich vor 52 Jahren während ihrer Jockey-Ausbildung auf der weltberühmten Pferderennbahn im französischen Chantilly kennengelernt. 

Anschließend verschlug es sie nach Deutschland: Duchemin arbeitete weiter als Jockey, Jean-Pierre als so genannter Arbeitsreiter für verschiedene Trainer in Köln. Sie verloren sich aus den Augen. Vor 25 Jahren trafen sie sich dann zufällig im Kölner Hauptbahnhof wieder.

Jean-Pierre M. lebte damals schon auf der Straße, erinnert sich Duchemin. „Ich war total schockiert. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Jean-Pierre war ein sehr guter Reiter, ein total lieber, netter Kerl, gutaussehend. Die Frauen mochten ihn.“ Duchemin habe ihm damals einen Job vermitteln wollen, aber zu einem verabredeten, zweiten Treffen sei Jean-Pierre nicht erschienen. Nachdem Duchemin kürzlich im Internet auf einen Zeitungsartikel über die Tat in Weidenpesch stieß, hat er erneut Kontakt aufgenommen und hilft seinem Ex-Kollegen nun, wo er kann.

40.000 Euro für den Reha-Aufenthalt

Insgesamt 40 000 Euro soll ein Reha-Aufenthalt für Jean-Pierre M. kosten. Doch der ist nicht krankenversichert. Duchemin hat bislang 5200 Euro an Spenden gesammelt, er hat Benefiz-Boule-Spiele in Norddeutschland organisiert, und er hält Kontakt zu Fritz Schramma, dessen Verein „Kölner Opferhilfe“ Jean-Pierre M. mit zusätzlichen 6000 Euro unterstützen will. Auch Weidenpescher Anwohner und der Weiße Ring helfen. Womöglich kommt auch Geld aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), wonach der Staat Opfer von Gewalttaten unter gewissen Voraussetzungen finanziell unterstützen muss.

Jean-Pierre M.

Bernard Duchemin (l.) hilft Jean-Pierre M., wo er kann. 

Aber das Problem ist: Niemand weiß genau, wie Jean-Pierres Nachname geschrieben wird, wie sein Geburtsdatum lautet und wo er geboren wurde. M. hat keine Personalpapiere, und wegen seines derzeit schlechten Zustands kann er selbst wenig zur Aufklärung beitragen. Die Angaben sind aber nötig, nicht zuletzt, damit Spenden korrekt verbucht werden können und die Bank ein Konto für ihn einrichten kann.

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M.’s Anwalt Andreas Mertens, den das Amtsgericht zum Betreuer bestellt hat, klagt: „Alle Anträge, etwa auf Sozialhilfe, sind gestellt. Aber die Stadt Köln tut nichts, um zu helfen.“ Trotz zweier Schreiben und einem Anruf habe das Einwohnermeldeamt keine Daten übermittelt. „Die haben wir aus der Akte der Staatsanwaltschaft.“ Der Landschaftsverband Rheinland, zuständig für die OEG-Anträge, habe bereits eine Wartezeit von sechs Monaten angekündigt.

Unterdessen versucht das französische Generalkonsulat in Frankfurt, Angehörige von Jean-Pierre M. ausfindig zu machen – bislang vergeblich. Angeblich hat der 68-Jährige noch einen Bruder in Frankreich.

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