4. Mai 1817Warum die Kölnische Zeitung eine weiße Titelseite veröffentlichte

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„Deutschland“ – das war vom Titelkopf abgesehen das einzige Wort auf der Titelseite der Kölnischen Zeitung vom 4. Mai 1817.

Köln – „Deutschland“: Nur dieses eine Wort. Mehr stand am 4. Mai 1817 nicht auf der ersten Seite der „Kölnischen Zeitung“. An jenem Sonntag erschien das Blatt mit einer – bis auf den Titelkopf – leeren Seite 1. Keine technische Panne, auch kein Versehen.

Verleger Marcus Johann Theodor DuMont ließ die Zeitung ganz bewusst so drucken und ausliefern. Der vorgesehene Artikel war von der Zensurbehörde kassiert worden. Das war nichts Neues, aber die Reaktion darauf. Eine weiße Seite – so etwas hatte es in der deutschen Zeitungslandschaft noch nie gegeben. 

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„Deutschland“ – das war vom Titelkopf abgesehen das einzige Wort auf der Titelseite der Kölnischen Zeitung vom 4. Mai 1817.

Vorausgegangen war ein Streit zwischen dem Herausgeber der „Kölnischen Zeitung“ und dem Kölner Polizeipräsidenten Karl Georg Philipp von Struensee, der unter anderem für das „Zensurgeschäft“ zuständig war. Die Auseinandersetzung entzündete sich an einem Artikel über die hohen Steuerbelastungen in den neuen europäischen Ländern. Den wollte der Zensor nicht durchwinken. Das sei kein Thema für seine Provinzbehörde, das wäre ein Fall für die preußische Zentralverwaltung in Berlin. Westfalen und das Rheinland mit Köln gehörten erst seit kurzer Zeit zu Preußen. Nach der Niederlage Napoleon Bonapartes waren beim Wiener Kongress 1815 die politischen Verhältnisse auf dem Kontinent erheblich verändert worden. 

Preußen war hoch verschuldet – Im Rheinland forderten sie Steuerentlastungen

Der beanstandete Artikel endete mit der Forderung, nach den langen Kriegsjahren sollten die Staatsschulden abgetragen und die Steuern gesenkt werden. Da schrillten beim obersten Zensor in Köln die Alarmglocken. Was für ein Gedanke! Steuersenkungen angesichts leerer Staatskassen. Preußen war hoch verschuldet. Die Freude, Teil eines bettelarmen Königreichs geworden zu sein, soll sich bei den Bürgern der ehemals freien Reichsstadt in Grenzen gehalten haben. Ob der dem Kölner Bankier Abraham Schaaffhausen zugeschriebene Ausruf: „Jesses, Maria, Josef! Do hierode mer in en ärm Famillich“ tatsächlich gefallen ist, lässt sich nicht belegen. Aber auch als ausgedachte Anekdote gibt sie die Stimmung gut wieder.

Polizeipräsident von Struensee sandte den Finanz-Artikel zum Preußischen Staatsministerium nach Berlin. Er wollte den Text erst zulassen, wenn die Zahlen bestätigt würden. Damit stand schon fest, dass der Beitrag gestorben war, denn das war in Zeiten vor der Erfindung des Faxgeräts zeitlich nicht zu schaffen. Die Sendungen von Köln nach Berlin und zurück waren bis zu einer Woche unterwegs. Etwas schneller ging es später mit den als Sensation bestaunten „Eilwagen“, die ab 1823 zweimal wöchentlich zwischen Köln und Berlin verkehrten. Aber selbst die Champions unter den reitenden Boten und die vierspännigen Pferdekutschen hätten die Titelseite der „Kölnischen Zeitung“ nicht retten können.

Zeitungsmacher übten bewusst Zeitdruck auf die Zensurbehörde aus

Das Risiko wird DuMont einkalkuliert haben. Die Zeitungsmacher versuchten damals ganz bewusst, Zeitdruck auf die Zensurbeamten auszuüben, indem sie die Texte erst sehr kurzfristig zur Vorzensur vorlegten. Häufig gaben sie keine Manuskripte, sondern die fertigen Korrekturbögen ab. Das funktionierte meistens, aber beim Steuerthema nicht. 

Herausgeber Marcus DuMont gab offiziell an, die leere Seite sei gar kein politischer Akt gewesen, mit dem er gegen die Zensur protestieren wollte. Er habe schlicht keinen Ersatztext gehabt. Als der Redaktion am 3. Mai keine Freigabe für den Artikel vorlag, habe er das Blatt drucken und herausgeben müssen, da seine Zeitung „außer seiner eigenen Familie noch zwölf Haushalte beschäftige und ernähre“.

Das wird mühsam genug gewesen sein. Für das Jahr 1815 gibt Ludwig Salomon in dem 1906 erschienenen Buch „Das Zeitungswesen seit 1814“ die Auflage der Zeitung mit bis zu 2000 Exemplaren an. Sechs Jahre zuvor seien es nur 326 Abonnenten gewesen. Der Verlag besaß drei alte hölzerne Pressen. Für 3300 Exemplare (Auflage 1831) brauchten diese Pressen zwölf Stunden. Die gedruckten Exemplare wurden von Hand gefaltet. In Köln brachten vier Träger die Zeitung zu den Abonnenten. 

Lieber eine verstümmelte als eine zu späte Zeitung

Ernst von der Nahmer gibt in der 1920 erschienenen „Geschichte der Kölnischen Zeitung“ die Beweggründe des Verlegers wieder: „Deshalb müsse er es als seine Bürgerpflicht betrachten, eine solche Nahrungsquelle durch keinen Schein der Nachlässigkeit zu schmälern. Er habe es daher vorziehen müssen, lieber eine verstümmelte als eine zu späte Zeitung erscheinen zu lassen.“  

In der deutschen Presselandschaft schlug der Vorfall hohe Wellen. Jürgen Herres schreibt in seinem Werk „Köln in preußischer Zeit“: „Die leere Zeitungsseite war eine Sensation geworden.“ Mehrmals wurde darüber berichtet. Das Weimarer Oppositionsblatt schrieb zum Beispiel: „Weiße Zeitungsblätter im Preußischen. Die Kölner Zeitung hat unter der Aufschrift Deutschland ihre ganze erste Seite weiß gelassen. Diese unbedruckte Seite ist allerdings auch eine Tagesneuigkeit und gewiß keine der unwichtigsten.“ Herres verweist auf einen Text in der Mainzer Zeitung: „Uebrigens könnte man diesen Artikel Deutschland leicht für eine Satyre halten, weil im Vaterlande wirklich noch beinahe alles en blanc ist.“

Das Beispiel aus Köln fand Nachahmer - und wurde fortan verboten

Das Beispiel machte Schule. Andere rheinische Zeitungen wiesen ihre Leser durch weiße Flecken auf Eingriffe durch die Zensur hin. Der Aachener Wahrheits-Freund setzte über eine unbedruckte Seite die Überschrift „Censur-Lücke“. Der preußische Polizeiminister Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein schäumte. Er sprach von „Unanständigkeit und Unverschämtheit“, nannte die Zeitungslücken „Troz & Hohn gegen die Censur“.

Fortan wurden leere Zeitungsseiten streng verboten. Die Behörden argumentierten, das Publikum habe einen Anspruch auf eine vollständige Zeitung. Für den Weißraum-Pionier aus Köln ging die Sache glimpflich aus. Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg war der Meinung, Marcus DuMont habe sich vergangen und sei zu verwarnen. Die Redaktion erhielt eine Rüge und nachträglich die „Erlaubnis zur Veröffentlichung ihres umstrittenen Aufsatzes, der seinen journalistischen Wert inzwischen eingebüßt hatte“ (Ernst von der Nahmer). Hardenberg drohte dem Verleger allerdings an: „Sein Blatt wird bei einer Wiederholung unterdrückt werden.“ 

DuMont wird bewusst gewesen sein, wie dünn das Eis war, über das er mit seiner Aktion schlitterte. Er vermied es zwar, öffentlich einen Zusammenhang zur Zensur zu ziehen. Im Archiv des „Kölner Stadt-Anzeiger“ befindet sich eine Kopie der leeren Seite vom 4. Mai 1817. Sie trägt den nachträglich hinzugefügten handschriftlichen Vermerk: „Von der preuß. Zensur ausgestrichen“. Wer diesen Satz wann geschrieben hat, ist nicht überliefert. Es dürfte aber höchstwahrscheinlich Marcus DuMont selbst gewesen sein. Ernst von der Nahmer glaubt, dass der Verleger in dieser Zeit „keine Hilfe für die Redaktionsarbeit herangezogen“ habe.

Die „Preß-Freiheit“ solle nicht in „Preß-Frechheit“ ausarten

Kurt Weinhold bestätigt in seinem Buch „Die Geschichte eines Zeitungshauses 1620 bis 1945“, dass erst 1819 und 1820 zwei zusätzliche Mitarbeiter eingestellt wurden. Und dass der Vermerk Jahre später, etwa von Marcus’ Sohn Joseph DuMont, auf die Seite geschrieben wurde, erscheint nicht plausibel. 

Was er unter Pressefreiheit verstand und wie er sein Zensurgeschäft betreiben wollte, hatte Polizeipräsident von Struensee Marcus DuMont gleich bei seinem Amtsantritt 1817 in einem persönlichen Gespräch deutlich gemacht. Er sei „zwar ein grosser Freund und Vertheidiger der Preßfreiheit im Allgemeinen.“ Er sei aber „auch überzeugt, daß besonders die Zeitungsschreiber mit Vorsicht und Besonnenheit vorgehen müßten, damit nicht die Preß-Freiheit in Preß-Frechheit ausarte“.

Vor allem war er der Meinung, „wenn Verfügungen der Königlichen Behörden ganz oder auszugsweise in den Landeszeitungen publizirt werden sollten, dies nur von den Behörden, aber nicht von den Zeitungsschreibern und deren Unwissenheit über die Thatsachen und ihre Motive ausgehn“ dürfe. „Nachrichten über die Verwaltung oder den Zustand des Preußischen Staats“ seien „für die Provinzialzeitungen in der Regel nicht geeignet.“ DuMont wusste also ganz genau, welche Reaktion sein Artikel zur Steuersenkung und seine leere Titelseite auslösen würden.

Kölnische Zeitung - Vorgänger des „Kölner Stadt-Anzeiger“

Die Ursprünge der „Kölnischen Zeitung“ gehen zurück auf die „Kaiserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung zu Cölln“, die 1763 erstmals erschien. Danach änderte sich der Name mehrmals, ehe sie ab 1802 „Kölnische Zeitung“ hieß. Marcus DuMont kaufte die Zeitung und die dazugehörende Druckerei 1805. Die letzte Ausgabe der „Kölnischen Zeitung“ kam am 8. April 1945 heraus. Ihre Nachfolgezeitung ist der „Kölner Stadt-Anzeiger“, der am 29. Oktober 1949 erstmals erschien. Seit 1962 trägt er den Namen „Kölnische Zeitung“ im Untertitel.

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