50 Meter KölnDer Papst machte den Brüsseler Platz zur beliebten Freiluftkneipe

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Einen wichtigen Beitrag zur Beruhigung in den Abendstunden könnten bald mehrere neue unterirdische Glascontainer an der Moltkestraße leisten.

Einen wichtigen Beitrag zur Beruhigung in den Abendstunden könnten bald mehrere neue unterirdische Glascontainer an der Moltkestraße leisten.

Köln  – Papst Benedikt XVI. ist schuld, dass der Brüsseler Platz heute eine der größten Freiluftkneipen des Landes ist. Ja gut, eine Teilschuld trifft sicherlich auch Franz Beckenbauer. „Beim Weltjugendtag 2005 sind hier mehr als 2000 junge Menschen zweimal am Tag verköstigt worden“, erinnert sich Ludger Deimel, Wirt des Kölsch-restaurants St. Michael. „Dann kam das Sommermärchen mit der Weltmeisterschaft, seitdem ist der Platz ein Treffpunkt der Jugend.“

Das Kölner Wirts-Urgestein Deimel, der das Breughel, die Cantina Mexicana und das Peppermint betrieben hat und mit dem St. Michael seit April an jener Ecke residiert, in der vorher das Bio-Restaurant „Guten Abend“ war, liebt den Brüsseler Platz – genau so, wie er heute ist. Deimel lebt seit 35 Jahren im Belgischen Viertel.

Er kennt das Veedel aus der Zeit, als in den Altbauten mit Kohleöfen noch Gastarbeiter lebten, in der Flandrischen Straße Geldverleiher und Huren ihren Geschäften nachgingen und so viele Bhagwan-Jünger an der Kirche St. Michael vorbeiwandelten wie heute tätowierte Vollbartträger. Bloß, dass die Anhänger der amüsierfreudigen Sekte weniger sexy aussahen, aber wohl deutlich mehr Sex hatten.

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Deimel deutet auf ein Eckhaus, in dem seinerzeit eine lustfreundliche Studentinnen-WG zu Hause war und erzählt eine schlüpfrige Geschichte.

„Der Flow ist gut"

Spötter haben Bhagwan seinerzeit Hedonismus vorgeworfen, so wie es Spötter heute den Latte-Macchiato-Müttern und tätowierten Kreativen vorwerfen. Die Alten schütteln den Kopf, wenn an den Tischen eine eigentümliche Mischung aus Deutsch und Englisch gesprochen wird, und bewundern doch leise die Jungen, die da am Laptop sitzend Geld verdienen, während die Technik für sie selbst längst ein unbesiegbarer Feind ist.

„Ach“, sagt Nathalie, die auf der Ehrenstraße den Laden Le Shop betreibt und täglich mit ihrer Tochter Louisa auf dem Spielplatz vor St. Michael anzutreffen ist, „es ist doch sehr entspannt und locker hier, jeder redet mit jedem, der Flow ist gut, das ist doch die Hauptsache, oder?“ Lass die Spötter spotten.

Nathalie und Tochter Louisa

Nathalie und Tochter Louisa

„Es ist vielleicht ein bisschen zu hypig, ein bisschen zu satt hier“, sagt Nathalie, „die Leute sind anspruchsvoll, sie wollen, dass sich was bewegt, aber für Künstler ist es längst zu teuer und viele wollen nur konsumieren.“ Der kleine Spielplatz, der nicht viel mehr zu bieten hat als ein Klettergerüst, „der ist schon erbärmlich“, sagt Nathalie, „aber die Atmosphäre ist toll, auch wenn es manchem ein bisschen zuuu cool ist.“ Lärm? „Ach was, es ist einfach ein belebter Platz mitten in der Stadt.“

„Hier herrscht nicht der große Rosenkrieg"

„Natürlich gibt es ein paar Verbitterte, denen es zu laut geworden ist, ein paar Anwohner klagen auch, aber hier herrscht nicht der große Rosenkrieg, von dem manchmal die Rede ist“, sagt Ludger Deimel. „99,9 Prozent der Leute benehmen sich und sind entspannt. Und wie viele Abende gibt es, an denen es hier wirklich voll ist?“

Gisela Peters-Rohse gehört ebenfalls zu den Entspannten. Sie lebt seit 1973 am Brüsseler Platz, schräg über Deimels Lokal. Freunde hatten ihr seinerzeit abgeraten, „zieh doch in ein gutes Viertel wie Junkersdorf oder Lindenthal“, sagten sie, nicht in das schmuddelige Arbeiterviertel. „Aber mir hat das gefallen hier.“

Wirt Ludger

Wirt Ludger

Vor der Kirche war vor 40 Jahren ein großer, freier Platz mit Hecken und japanischen Kirschbäumen, „jetzt sind da diese Kindersärge“, sagt Peters-Rohse, und deutet auf die Betonfassungen für die Bäume, auf deren Rändern im Sommer das Partyvolk die Nächte vertrinkt. Die jungen Leute seien „manchmal lästig, vor allem, wenn ich nachts, todmüde vom Flughafen kommend, kaum durchkomme bis zu meiner Wohnung“.

Gisela Peters-Rohse ist eine Tanz-Pionierin, sie hat Bücher über Kindertanz geschrieben, die als Standardwerke gelten. Mit 78 fliegt sie noch für Vorträge und Kurse um die Welt, und kommt gern zum Brüsseler Platz zurück.

Einigen jungen Menschen fehle es an Manieren, sie gingen nicht zur Seite, wenn sie in ihr Haus wolle, und täten so, als gehöre der Platz voll und ganz ihnen, „aber die meisten sind sehr nett“. Lärm? „Schon, aber ich habe gute Fenster. Die mache ich einfach zu.“

„Was alles so geplant und gemacht wird, ist vielen egal"

Ein Rundgang um St. Michael. Im Südwesten ein paar Jugendliche, die kiffen und Red Bull trinken, Schmierereien auf dem Gemeindeschaukasten. Im Südosten ein knutschendes Paar.

An der Kirchnordwand sind am Nachmittag die Tischtennisspieler zu besichtigen, immer die gleiche Clique, „wir spielen nach der Arbeit zwei, drei Stunden, holen Getränke am Büdchen, das war’s“, sagt Jan (25).

Ein alter Mann guckt ihnen täglich aus seinem geöffneten Fenster zu – beschimpft hat er die Spieler noch nicht, aber es gibt schon Anwohner, die das tun.

Geplant ist nun, einen neuen, leiseren Boden zu verlegen, auch eine der zwei Platten wird vielleicht abgebaut. Jan und seine Kumpels wissen von den Plänen, die im Mai von der Stadt vorgestellt wurden, nichts. Auch das ist der Brüsseler Platz: Sehr chillig, sehr lässig, aber was so alles geplant und gemacht wird, ist vielen egal.

Tischtennisspieler Jan

Tischtennisspieler Jan

„An uns ist mal eine Flasche haarscharf vorbeigeflogen, die kam aus einem Fenster“, sagt Lukas, Sport- und Biologiestudent, der mit Ronja beim Bier auf einer Bank sitzt. „Spätestens, wenn um 23.30 Uhr das Ordnungsamt kommt und danach die Reinigungsmaschine hier durchpflügt, ist doch Ruhe hier.“

Ruhe ist natürlich relativ. Es gab Ordnungskräfte, die so lange beleidigt wurden, bis sie nicht mehr arbeiten konnten. Und es gibt die ewige Frage, wann Nachtruhe zu herrschen habe, um 22 Uhr oder um 24 Uhr. Anwohner haben auf 22 Uhr geklagt, die Gerichte noch nicht entschieden.

Der Kioskbetreiber ärgert sich, dass er nur bis 23.30 Uhr Bier verkaufen darf, derweil die Gastronomen bis 24 Uhr draußen servieren dürfen; eine Stadtsprecherin hat jüngst gesagt, im Vergleich zum Streit um die Nachtruhe sei das Nichtrauchergesetz „eine Lachnummer“ gewesen. Die meisten Menschen am Brüsseler Platz lachen über diese Streitereien. Solange sie abends ihr Bier hier trinken dürfen.

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