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70 Jahre Kölner Stadt-AnzeigerWolfgang Niedecken und der Perspektivwechsel am Rhein

Lesezeit 8 Minuten
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Wolfgang Niedecken unterwegs auf dem Rhein zwischen Kilometer 672 und 700.

Köln – Wolfgang Niedecken ist sofort im Film. Kaum hat er die Anfrage vernommen, entwickelt er die Idee für das Kunstwerk, das anlässlich des Jubiläums des „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Sonderausgabe schmücken soll.

„Ich könnte mir vorstellen, die Kölner Rheinkilometersteine zu fotografieren und daraus eine Art Collage zu machen.“ Das klingt nicht nur als künstlerische Aufgabe verlockend. Das Konzept passt auch bestens zu einer Zeitung, die seit 70 Jahren am Rhein zuhause ist und die wie die Kilometersteine für Orientierung sorgen will – wenn auch nicht auf dem Rhein, sondern im täglichen Nachrichtenstrudel.

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Ein Großteil der Erlöse aus dem Verkauf geht an das Projekt „Rebound“.

Die Markierungen an beiden Flussufern sind dem Musiker, der als bildender Künstler seine Karriere begonnen hat und diese Ausdrucksform nie völlig aufgegeben hat, so vertraut wie die Südstadt und der Rhein selbst. Aus seinem Arbeitszimmer fällt der Blick auf den rechtsrheinischen Stein mit der Kilometerangabe 684. Und beim Zähneputzen schaut er auf den Stein mit der Markierung 685. Auch wartet ein Song, den er seit langem im Kopf hat, auf die Textwerdung.

„Ich wollte immer schon mal ein Lied schreiben, das von den Steinen 686 und 687 handelt – und der Südstadt dazwischen“, erzählt er. Bisher gebe es dazu weder Musik noch Text, aber die Hookline gefalle ihm sehr: „Sechs-aach-sechs un Sechs-aach-sibbe“. Doch jetzt macht Wolfgang Niedecken erst einmal einen Plan, sich mit Ehefrau und Fotografin Tina Niedecken auf die Fahrräder zu schwingen und die Lage zu sondieren.

Erste Rheinfahrt

Tage später. Wolfgang Niedecken hat mittlerweile eine noch bessere Idee. Nicht von Land aus will er die Rheinkilometersteine in den Blick nehmen. Sondern vom Fluss aus. Da befindet sich ja auch das Zielpublikum: Nicht für Fahrradfahrer oder Spaziergänger sind die Kilometer-Angaben gedacht, sondern für die Schiffsführer, Bootsfahrer, Ruderer oder Wasserskifahrer auf dem Strom. „Außerdem ist so ein Perspektivwechsel immer wichtig“, sagt er, „in allen Lebenslagen.“ 

Die erste Bootsfahrt mit Kapitän Jochen Vetter von der Segelschule Köln findet Ende September statt. Tina Niedecken fotografiert die Kilometersteine so, dass jeweils der Kontext deutlich wird – Häuser, Menschen, Ufer, Böschung. „Es ist gar nicht so einfach, die perfekte Schärfe hinzubekommen“, sagt sie. Denn das kleine Boot bewegt sich immerzu, selbst wenn es sich nicht vom Fleck zu rühren scheint. Und dann – dann muss auch noch das Licht stimmen.

Den Blick vom Wasser auf die Stadt habe er so intensiv noch nicht erlebt, sagt Wolfgang Niedecken. Und Tina Niedecken versichert, sie habe ihren Mann lange nicht mehr so glücklich gesehen wie nach dieser Erkundungstour für das Projekt.

Zweite Rheinfahrt

Die Wetter-App hat nicht getrogen. Am 2. Oktober nieselte es noch früh um sieben Uhr im Kölner Rheinauhafen. Doch jetzt, kurz vor neun Uhr, klart es auf, und erste Sonnenstrahlen finden den Weg durch die Wolken aufs Stadtgebiet. Dieses Licht ist heute besonders wichtig. „Wunderbar!“ sagt Wolfgang Niedecken, als er an Bord der Mobo geht. Mobo? Kapitän Jochen Vetter – der „Böötchefahrlährer“, wie es auf seinem Pulli steht – klärt auf: „Der Name steht für Motorboot“.

Wolfgang Niedecken hat zwei kleine Notizhefte zur Hand. In denen hat er alle Steine notiert. Die auf der linken und die auf der rechten Rheinseite. Vom Godorfer Hafen (672) bis nach Merkenich (700). Pro Kilometer eine Seite. Einige hat er mit gelbem Marker gekennzeichnet. „Diese Aufnahmen sind Ordnung, die brauchen wir nicht noch einmal machen.“

Mit Orange sind die „Wackelkandidaten“ markiert, die noch einmal ins Visier genommen werden müssen. Wegen der Schärfe, wegen des Lichts, wegen der Situation rund um den Stein. Dann gibt es jene, die noch gar nicht erfasst worden sind. Und bei Rheinkilometer 697 hat er notiert: „Rechts: uninteressant (Leverkusen!).“ Ein Scherz – geboren aus der rheinischen Fußball-Rivalität.

„Den Kölner Pegel brauche ich auch noch!“ sagt Niedecken bei der Vorbeifahrt. Aber gerade versperrt ein Ausflugsschiff der Köln-Düsseldorfer den freien Blick. Macht nichts, der Tag ist noch jung. Also erst einmal weiter zu St. Kunibert. Und hier, am linksrheinischen Kilometerstein 689, wie fast an jeder anderen Station der nächsten Stunden, kann Niedecken eine Geschichte erzählen.

Mal stammt sie aus der Stadthistorie, in der er sich bestens auskennt, und sehr häufig aus der eigenen Biografie. „Hinter St. Kunibert kommst Du gleich zu UKB, zur Straße Unter Krahnenbäumen…“ Davon hat er schon vor 15 Jahren in einem besonders schönen BAP-Song gesungen: „All die Chargesheimer-Fotos woote eimsohl mieh zom Film, / Lapidar, doch nie belanglos, lautlos, doch nie wirklich still.“

Kindheitserinnerungen in Fülle verbindet er mit dem Fluss. Frühe Fernweh-Träume zum Beispiel: „Wenn ich damals das Siebengebirge sah, dachte ich, das wären die Alpen und dahinter käme schon Italien. Dann ein Meer und schon wäre ich in Afrika!“

Oder die Ausflüge der 50er Jahre: „Mit den Eltern sind wir ein Stück den Rhein hoch und haben Camping gemacht. Auf der Höhe von Porz-Langel. Mit Zelt und VW-Bus. Als kleiner Junge hab„ ich da im Rhein gebadet – und was war das in den Jahren nach dem Weltkrieg für eine Kloake!“

Am Kilometer 685 linksrheinisch steht die Sonne perfekt. „Gut so!“ ruft Tina Niedecken Kapitän Vetter zu. Jetzt kommen auch noch ein paar Fußgänger ins Bild, was sehr willkommen ist. „Ich winke mal!“ sagt Wolfgang Niedecken. Aber die Passanten zeigen keine Reaktion. „Schade.“ Tina Niedecken ist trotzdem zufrieden: „Ja, hab’ ich!“ Also weiter. „Der Nächste, bitte!“ sagt Wolfgang Niedecken, als ginge es darum, die Kilometersteine zu verarzten.

Wolfgang Niedecken und „Rebound“

Wolfgang Niedecken wurde 1951 in Köln geboren und wuchs in der Südstadt auf. Er studierte an der Kölner Werkschule Freie Malerei und stellte seine Kunst erstmals 1973 aus. Zahlreiche Ausstellungen folgten. Die Malerei trat allerdings in den Hintergrund, als er sich auf seine Band BAP konzentrierte: 1976 fand sie zusammen, 1979 erschien das erste Album – der Beginn einer großen, bis heute andauernden Erfolgsgeschichte.

Zusammen mit World Vision hat Niedecken das Hilfsprojekt „Rebound“ gegründet, das vom Krieg traumatisierten Kindern und Jugendlichen in Afrika hilft. Der aktuelle Schwerpunkt liegt im Kongo. 70 Prozent der Erlöse aus dem Verkauf der Sonderdrucke des Kunstwerks kommt „Rebound“ zugute.  

Mal erfreut eine Spiegelung im Wasser und mal ein Gartenhäuschen, mal die Ruderer in blauen Trikots und mal die Männer, die in ihren orangefarbenen Overalls die Böschung säubern, mal die „mondrianmäßig“ farbigen Kästen am Ufer und mal die Graffiti gleich hinter dem Kilometerstein 679.

Ob er die Aufnahmen beschriften wird, wie einst bei seinen „Tagesbildern“, ist zu dem Zeitpunkt offen. „Das kann ich erst sagen, wenn ich das ganze Material vor mir sehe. Ich möchte am Anfang gar nicht wissen, wie es am Ende aussehen wird.“

Sicher ist er allerdings am Ende der drei Stunden flussauf und flussab: „Wenn die Bilder alle erst einmal arrangiert sind, werde ich noch oft davorstehen und sie mir angucken. Ich freue mich darauf, wenn ich dann meine Gedanken schweifen lassen kann.“

Zwei Tage später

Wolfgang Niedecken ruft an. Er erwägt, den Myriameterstein in Weiß in die Serie zu integrieren. Das ist einer der wenigen erhaltenen, auf vier Seiten beschrifteten Steine, die im 19. Jahrhundert die Central-Commission für die Rhein-Schifffahrt setzte – zwischen Basel und Rotterdam im Abstand von zehn Kilometern.

Und was ihm erst jetzt bewusst geworden sei: Mit Langel im Süden geht die Fotoreise los, mit Langel im Norden endet sie. Zwar liegt das eine in Porz und das andere in Merkenich, aber der Kreis schließt sich.

In der Südstadt

Wieder ein paar Tage später treffen wir uns in einem Südstadt-Bistro. Tina und Wolfgang Niedecken bestellen Ingwer-Tee. Mittlerweile steht fest, dass nicht alle Rheinkilometersteine berücksichtigt werden sollen. Auch der Myriameterstein bleibt draußen.

Jetzt werden es wohl 29 ausgewählte Aufnahmen sein, für jeden Kilometer eine. „Das ist nah dran an meinem Story-Telling mit BAP“, sagt Wolfgang Niedecken. Er freue sich über Fotografien, in denen mal ein Hund oder eine Menschengruppe zu sehen sei. Das seien Anfänge von Geschichten – und die reizen ihn.

Bei diesem Kunstprojekt gehe es ihm nicht nur um die nüchterne Dokumentation der Steine, sondern auch um die Story drumherum. Dann holt er ein plakatgroßes Schriftstück hervor, auf dem er die auserwählten Steine auf der rechten und linken Rheinseite notiert hat. Jeweils daneben ein paar Stichworte zur Orientierung: „R692 E-Werk / Palladium / Birlikte“.

Im Pressehaus

Tina und Wolfgang Niedecken treffen sich im Pressehaus an der Amsterdamer Straße mit Chefredakteur Carsten Fiedler. Jetzt gilt es, die Aufnahmen für die Doppelseite in der Jubiläums-Ausgabe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu arrangieren. Mit dabei: Art Director Nikolas Janitzki.

Die Frage, ob die Bilder mit Bildzeilen versehen werden sollen, wird schnell verneint. Auch der Weißraum zwischen den Aufnahmen ist bald festgelegt. Schwieriger ist es, sich für das eine oder andere Motiv zu entscheiden.

Und viel wird über das letzte Bildfeld diskutiert, in dem die Signaturen, ein Stempel und der Titel „Noh all dänne Johre“ (Nach all diesen Jahren) unterkommen sollen. Welche Farbe passt da hin? Beige oder Himmelblau oder „ein freundliches Steingrau“? Vier Stunden später ist Wolfgang Niedecken zufrieden: „Ich find’s total schön! Ich kann es kaum erwarten, das Bild in den Händen zu halten.“

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