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Alleine an WeihnachtenWie eine Kölnerin per Facebook Menschen zusammenbringt

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Etwa drei Millionen Menschen sind in Deutschland an Weihnachten alleine. (Symbolbild)

  • Weihnachten, das ist eine Projektionsfläche für das Ideal von Familienleben: Vater, Mutter, Kinder glücklich vereint unterm Tannenbaum.
  • Doch nicht alle entsprechen dem Modell der klassischen Kleinfamilie. Etwa drei Millionen Menschen in Deutschland verbringen Weihnachten alleine.
  • Eine Initiative bringt über soziale Netzwerke Menschen zusammen, die nicht alleine feiern wollen – In Köln gibt es die Option auch analog.

Köln – „Weihnachten kann sich ganz schön mies anfühlen“, sagt Heike Paulus. Die gebürtige Kölnerin erlebte vor zwei Jahren das, was sie als „Tabu“ beschreibt: Sie war Weihnachten allein. Die Mutter war in dem Jahr gestorben, der in Köln-Mülheim lebende Bruder frisch verheiratet mit schwangerer Frau. „Da hatte ich das Gefühl, zu stören und fehl am Platz zu sein.“ Die Rechtsanwaltsfachgehilfin hat damals festgestellt, wie schambehaftet das ist. „Man traut sich gar nicht darüber zu reden. Sich dieses Alleinsein einzugestehen, ist Horror. Man verkriecht sich eher und spricht einfach nicht drüber.“

Weihnachten, das ist eine Projektionsfläche für das Ideal von Familienleben: Vater, Mutter, Kinder glücklich vereint unterm Tannenbaum. Als Stereotyp permanent unterfüttert von der Werbung, entfaltet es einen Sog, dem sich quasi niemand entziehen kann. „Das ist problematisch für Menschen, die das Ereignis so nicht erleben können“, sagt Heike Paulus.

Weihnachten in Köln: Modell der klassischen Kleinfamilie

Und damit meint sie eben nicht hochbetagte Senioren oder gesellschaftliche Randgruppen wie Obdachlose. Für die gebe es ja oft eigene Weihnachtsangebote in Gemeinden. Die, die oft vergessen würden, das seien eben die Jungen oder die Menschen mittleren Alters, die nicht das Modell der klassischen Kleinfamilie lebten. In jedem dritten Haushalt, so hat es das Statistische Bundesamt ermittelt, lebt ein Single.

Drei Prozent der Menschen zwischen 14 und 75 Jahren verbringen in Deutschland Weihnachten allein, das sind etwa drei Millionen Menschen. Und es gebe auch viele, für die es sich als erwachsene Singles nicht gut anfühle, mit 40 immer noch mit den Eltern unterm Tannenbaum zu sitzen. Oder die als Alleinerziehende mit einem Kind allein zu Hause sitzen.

Facebook-Gruppe „Weihnachten (nicht) allein“ gegründet

Heike Paulus wollte nicht passiv bleiben und gründete die Facebook-Gruppe „Weihnachten (nicht) allein“, auf der sie einen Gastgeber für Weihnachten suchte. Die Resonanz war überwältigend, das Echo riesig, aus dem ganzen Bundesgebiet. Nicht nur, dass Paulus auf diesem Weg für sich einen guten Weg fand, das Fest nicht alleine zu verbringen. Sie erkannte den riesigen Bedarf und brachte über die Facebook-Gruppe Gastgeber und Gäste zusammen.

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Aus der Idee ist inzwischen eine richtige Unternehmung geworden: Paulus tat sich mit dem Projektentwickler Christian Fein zusammen, der ein ähnliches Projekt auf Twitter unter dem Stichwort „#Keinerbleibtallein“ losgetreten hatte und ebenfalls auf ein riesiges Echo stieß. Sie gründeten den Verein „Keine(r) bleibt allein e.V.“ und fusionierten beide Kanäle. Die Idee: Menschen, die sich einsam fühlen, melden sich und werden an andere vermittelt. Bislang 17.000 Menschen haben sich in diesem Jahr bis kurz vor Weihnachten gemeldet, um sich an der Aktion zu beteiligen.

Ehrenamtler organisieren alles mit riesigen Excel-Tabellen

Dabei kommen auf einen, der jemanden zum Feiern sucht, drei Personen, die einen Platz anbieten. Inzwischen vier Ehrenamtler sortieren mit riesigen Excel-Tabellen Angebote und Gesuche nach Wohnorten und vermitteln. „Wir empfehlen dann immer, in jedem Fall schon mal vorher Kontakt aufzunehmen und sich zu beschnuppern, ob es in der Konstellation passen könnte.“

Sandra van de Pas war spontan begeistert von der Idee von Heike Paulus. Die Alleinerziehende aus Raderthal feiert mit ihrem elfjährigen Sohn. „Auch für diese Gruppe ist Weihnachten schwierig. Man macht Bescherung, bringt dann das Kind ins Bett und sitzt anschließend alleine vor dem Baum. Wenn dann der Nachwuchs am ersten Weihnachtstag zum Papa geht, wird es noch schwieriger.“ Van de Pas hat sich deshalb selber schon bei Heike Paulus’ Aktion im vergangenen Jahr als Gastgeberin gemeldet, und weil sie die Aktion „so grandios“ fand, weitete sie das Konzept als stellvertretende Vorsitzende des Bürgervereins „Raderberg und -thal“ in diesem Jahr erstmals auf ihren Kölner Stadtteil aus. Ihr Ziel war es, auch Leute zu erreichen, die nicht Facebook oder Twitter nutzen: Fast 3000 Postkarten ließ van de Pas drucken, warf sie in die Briefkästen und verteilte sie auf dem Weihnachtsmarkt, dekorierte Tannenbäume damit. „Die Begeisterung war riesig, aber es gibt eine große Hemmschwelle, wirklich mitzumachen.“

Spontanbekanntschaft vom Kölner Hundeübungsplatz

Für viele sei Weihnachten etwas Intimes und löse den Impuls aus, nicht stören zu wollen, sagt Franziska Schnippe. Sie sitzt im Esszimmer ihrer Wohnung und ist froh, ihre Weihnachtskonstellation für dieses Jahr gefunden zu haben: Neben Tochter Christiane und ihrem Sohn wird noch Jürgen Zeidler dabeisein. Der alleinlebende Kölner ist eine Spontanbekanntschaft vom Hundeübungsplatz, den die Schnippes in ihre Weihnachtsrunde aufgenommen haben. „Früher habe ich den Heiligabend immer flanierend verbracht. Ab sechs Uhr bin ich durch die stillen Straßen gegangen und habe in die Fenster geschaut, hinter denen Familien ihren Heiligabend verbrachten. Jetzt weiß ich, wo ich Weihnachten hingehe, und das ist toll.“

Franziskas Schnippes zusätzlicher Gast, der über die Postkartenaktion dazu kommen sollte, hat ganz kurzfristig kalte Füße bekommen und nun doch für Heiligabend abgesagt. „Da bin ich spontan ins Seniorenheim in Rodenkirchen gefahren, um dort quasi live nach einem Ersatzgast zu suchen.“ Mit Erfolg: „Ich habe eine rüstige 85-Jährige gefunden, FC-Fan und geistig voll auf der Höhe.“ Die freue sich riesig und wird die Runde dieses Jahr vervollständigen. 

Tochter Christiane, die am zweiten Weihnachtstag alleine ist, wird ihrerseits bei Sandra van de Pas zu Gast sein, wenn deren kleiner Sohn beim Vater ist. Beide haben sich über die Postkartenaktion kennengelernt. „Ich habe als Rucksackreisende beim Couchsurfing in Australien die Erfahrung gemacht, wie toll das sein kann. Damals hat mir eine Familie über Weihnachten ein Bett zur Verfügung gestellt. Die haben mich behandelt, als ob ich zur Familie dazugehöre, obwohl wir uns an dem Abend kennengelernt haben.“ Noch heute hat sie zu der Familie Kontakt. Das sei eine prägende Erfahrung gewesen, die sie weitergeben will. „Es braucht nur ein bisschen Neugier und die Offenheit, sich überraschen zu lassen.“

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