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Angst vor Antisemitismus auch in Köln„Lieber eine Mütze über die Kippa ziehen!“

Lesezeit 10 Minuten
Chanukkaleuchter

Chanukkaleuchter mit Davidstern

  • Am Sonntag endet auch in Köln das jüdische Freudenfest Chanukka.
  • Doch neben den Feierlichkeiten bestimmt die Sorge vor einem erstarkten Antisemitismus das Leben der Juden in Deutschland.
  • Eine zusätzliche Herausforderung: Die Integration der russischen Einwanderer während der vergangenen Jahre.

Düsseldorf/Köln – Es ist schon wieder früh dunkel geworden an diesem Abend im Spätherbst, und düster wirkt auch, was die drei Diskutanten auf einem Podium im Düsseldorfer Landtag zu sagen haben. Vor dem Saal steht ein Büfett mit Häppchen aus der israelischen Küche bereit, doch dem kulinarischen Genuss geht die kritische Bestandsaufnahme voraus: „Tacheles statt Sonntagsreden – muss sich jüdisches Leben in Deutschland verstecken?“

Dazu soll sich Sandra Kreisler äußern, Schauspielerin, Diseuse und Autorin – und Nachfahrin des berühmten Kabarettisten und Komponisten Georg Kreisler aus Wien, weshalb sie sich spöttisch „hauptberuflich Tochter“ nennt. Ihr zur Seite sitzen Grisha Alroi-Arloser, er ist unter anderem Geschäftsführer der Israelisch-Deutschen Handelskammer, sowie Michael Szentei-Heise, der bis 2020 über 33 Jahre hinweg als Direktor der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf wirkte.

Hassbriefe mit Klarnamen

Es deprimiert, welche Botschaft sie an diesem Abend loswerden: Müssen sich Juden im Deutschland des Jahres 2021 tatsächlich verstecken? Unter Umständen: Ja – dann nämlich, wenn sie zu sehr als Juden auffallen oder gar ihre Meinung zum Antisemitismus in diesem Land zu laut äußern. Und dieser Antisemitismus, darin ist sich die Runde einig, kriecht nach einer relativen Phase der Ruhe in den 70er und 80er Jahren wieder aus so manch unvermindert fruchtbarem Schoß.

„Die sozialen Medien haben Foren geschaffen, wo sich Leute aufschaukeln können“, sagt Michael Szentei-Heise. Gingen Briefe mit Beschimpfungen, antiisraelische Pamphlete und antisemitische Parolen vor ein paar Jahren anonym oder unter Pseudonym bei den Gemeinden ein, so seien sie heute mit Klarnamen versehen. Und da war das Podium noch gar nicht auf den fast geglückten Anschlag von Halle oder den Angriff auf einen Kippa tragenden jüdischen Mitbürger auf den Kölner Ringen zu sprechen gekommen. „Es wird ungemütlicher“, stellt Sandra Kreisler fest.

Es wird früh dunkel, die Nächte werden länger, und so wie die christliche Mehrheitsgesellschaft sich in diesen Tagen auf das Weihnachtsfest vorbereitet, feiern Jüdinnen und Juden – oder zumindest ein großer Teil von ihnen – Chanukka. Es ist ein Freudenfest: Gedacht wird der Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 vor unserer Zeit, der ein erfolgreicher Aufstand der Makkabäer gegen die Hellenen vorangegangen war.

Gedacht wird vor allem aber eines Wunders: Nur ein Krug Öl war nach den Kämpfen übrig geblieben, doch er hielt für staunenswerte acht Tage vor. Deshalb wird zu Chanukka jeden Abend ein Licht mehr entzündet, bis am Ende – in diesem Jahr am 5. Dezember – alle Kerzen der Menora leuchten.

Leo Baeck im Landtag

Zum Diskussionsabend in Düsseldorf hat der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache geladen, er beteiligt sich damit am Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“, das auf das Dekret Konstantins zurückgeht. Der römischen Kaiser gewährte 321 den Kölner Juden den Zugang zum Stadtrat. Als erster ergreift Landtagspräsident André Kuper das Wort und erinnert an ein weiteres Jubiläum, nämlich an die Gründung von Nordrhein-Westfalen vor 75 Jahren im demokratischen Länderverbund der Bundesrepublik Deutschland.

Im Hinblick auf das jüdische Leben in diesem Land gibt es ein bedeutendes Foto, das den Landtag im Jahr 1954 zeigt – er ist mit einer israelischen Flagge geschmückt. Davor steht am Rednerpult Leo Baeck, in jungen Jahren Gemeinderabbiner in Düsseldorf, vor dem Zweiten Weltkrieg führender Repräsentant des Judentums in Deutschland und dann Überlebender der Shoah. Nach seiner Auswanderung nach London war Baeck zu dem Urteil gekommen: „Die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.“

Julius H. Schoeps wurde 1942 in Djursholm in Schweden geboren. Er ist Historiker und Politikwissenschaftler, Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung.

Der deutsch-jüdische Philosoph Mendelssohn, ein Aufklärer, Verfechter der gründlichen Trennung von Staat und Religion und wie Lessing ein Mahner für Toleranz, zählt zu seinen Vorfahren. Schoeps formuliert eine These, die er gerade im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ für zentral hält. Sie lautet: „Ein deutsches Judentum existiert nicht mehr.“

Natürlich leben heute Juden in Deutschland, so Schoeps. Doch zu einem überwältigend hohen Prozentsatz bestehen die jüdischen Gemeinden hierzulande heute aus Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion: „Sie stehen in einer anderen Kulturtradition. Die Geschichte des einstigen deutschen Judentums ist nicht ihre Geschichte. Ich schließe nicht aus, dass es in 50 Jahren wieder ein neues deutsches Judentum geben wird, doch das wird ein völlig anderes Judentum sein als das deutsche Judentum vor 1933.“

Einwanderer aus Russland

Es ist nicht allein der unverhohlener zum Ausdruck kommende Antisemitismus, der den jüdischen Gemeinden zu schaffen macht, es war und ist auch die Integrationsanstrengung der vergangenen Jahre, die Kraft gekostet hat: Die Einwanderer aus Russland und anderen Staaten des einstigen Ostblocks mussten die Sprache lernen, sie brauchten Wohnung und Arbeit – und sie sind Kinder einer anderen Kultur. Dostojewski statt Heine, Turgenjew statt Börne, das sind andere Leitbilder als jene, die vor der Shoah für die hier lebenden Jüdinnen und Juden galten: „Das deutsche Judentum stand in bestimmten Traditionen, es berief sich auf den Philosophen Moses Mendelssohn und identifizierte sich mit dem Dichter und Mendelssohn-Freund Gotthold Ephraim Lessing. Mit ihnen konnte das Judentum vor 1933 etwas anfangen“, sagt Schoeps.

Eine gewaltige Erneuerungswelle, auch in geistiger Hinsicht, hat die Gemeinden erfasst, die sich nach 1945 und vielfach zögerlich und unter Schmerzen in Deutschland wieder etabliert haben.

Führungen durch die Synagoge

Auch Esther Bugaeva stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie kam jedoch nicht als sogenannter Kontingentflüchtling, sondern als Studierende nach Deutschland. Heute unterrichtet sie Wirtschaftsenglisch und führt Besucherinnen und Besucher durch die Synagoge in der Kölner Roonstraße. In diesen Tagen macht sie selbstverständlich vor dem eisernen Chanukkaleuchter Station, dessen ebenfalls illuminierter Sockel mit blauen Davidsternen verziert ist.

Wie fühlt sie sich als Jüdin heute in Deutschland? Angst habe sie nicht, sagt sie. Aber einen Ring mit hebräischen Schriftzeichen, den sie sehr liebe, trage sie in der Öffentlichkeit nicht mehr, zumal sie viel mit der Straßenbahn fahre und der Ring gut sichtbar sei, wenn sie sich festhalte.

Antisemitische Welle im Frühjahr in Bonn und Münster

Müssen sich Juden im Jahr 2021 in Deutschland also verstecken? Noch im Frühjahr ging wieder eine antisemitische Welle durchs Land, als es auf dem Tempelberg in Jerusalem zu Auseinandersetzungen kam und die israelische Armee auf die Gewalt der radikalislamischen Hamas reagierte: Vor Synagogen in Bonn und Münster wurden judenfeindliche Parolen skandiert und die israelische Flagge verbrannt, gerade so, als wolle man die in Deutschland lebenden Juden für den Nahost-Konflikt in Haftung nehmen. Ein großes Problem, das stellt Eva Bugaeva bei ihren Führungen mit Schulklassen fest, seien Vorurteile unter Jugendlichen aus muslimischen Familien.

Gerade an Chanukka aber will auch die jüdische Gemeinde in Köln für die Öffentlichkeit sichtbar werden – die nicht-jüdische Umgebungsgesellschaft soll mitfeiern, zum Beispiel am Sonntag auf dem Rathenauplatz vor der Synagoge, wenn am letzten Tag des Festes die achte Kerze entzündet wird. Das sei ja auch so ein hartnäckiges Vorurteil, sagt Bugaeva, dass Juden sich abkapselten.

Auch im Haus der Kölner Synagogengemeinde in Ehrenfeld leuchtet die Menora zu Chanukka. Aus dem Kindergarten dringt Klaviermusik, was irgendwie wirkt, als wolle man den Sicherheitsleuten am Eingang eine Extraportion gute Laune verpassen: Zu den üblichen Kontrollen kommen in diesen nasskalten, dunklen Tagen wieder die Corona-Checks.

Chanukka in Köln

Am Sonntag, 5. Dezember, findet das öffentliche Kerzenzünden zu Chanukka auf dem Rathenauplatz vor der Kölner Synagoge statt (16.15 Uhr). Wegen Corona ist der direkte Zugang auf 170 Personen begrenzt. Ein zweites Kerzenzünden gibt es um 19 Uhr im Begegnungszentrum in Chorweiler, Pariser Platz 30.

Die Synagogen-Gemeinde bietet allen Interessierten Gruppen-Führungen durch die große Synagoge in der Roonstraße sowie über den Jüdischen Friedhof in Bocklemünd und den ältesten jüdischen Friedhof Kölns in Deutz an. Anmeldungen unter e.bugaeva@sgk.de

An einem großen Tisch sitzt Abraham Lehrer, Vorstand der Kölner Gemeinde und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Müssen sich Juden in diesem Land heute verstecken? „Nein, sie müssen sich nicht verstecken“, sagt Lehrer. „Aber ein wichtiger Aspekt dieses Problems sind die vielbeschworenen No-Go-Areas, wobei ich für Köln nicht sagen würde, dass es hier Viertel gibt, in denen man sich nicht mit einer Kippa sehen lassen sollte. Aber natürlich: Wenn jemand mich oder jemand anderen aus dem Vorstand fragt, dann antworten wir, dass man sich zumindest auf bestimmten Straßen nicht als Jüdin oder Jude zu erkennen geben sollte. Lieber eine Mütze über die Kippa ziehen!“

Lehrer ist ein besonnener Mann, ein IT-Unternehmer, dessen Eltern die Konzentrationslager der Nazis überlebten, aber nach der Emigration nach New York wieder nach Köln zurückkehrten. Nicht alles, was als antisemitischer Übergriff gebrandmarkt werde, entspreche der Wahrheit, sagt er: „Da muss man vorsichtig sein. Der eine behauptet etwas im Suff, ein anderer hat sich aus welchen Gründen auch immer geärgert, und so weiter.“

Und doch muss auch er wie die Düsseldorfer Runde konstatieren, dass sich Antisemiten heute rabiater, öfter und offener bemerkbar machten – und Hassbriefe eben nicht mehr nach dem Max-Mustermann-Schema abgeschickt werden, sondern mit vollem Absender.

20 Prozent der Bevölkerung haben Ressentiments

Lehrer verweist auf eine Untersuchung aus dem Jahr 1989/90 – auch das ein Warnsignal -, die ergeben habe, dass unter 20 Prozent der Bevölkerung antisemitische Ressentiments existieren. „Das haben wir damals für übertrieben gehalten, auch wenn es immer mal wieder Phänomene wie die Republikaner gab – aber sie sind ja auch wieder verschwunden!“

Wenn man sich aber vergegenwärtige, dass eine Partei wie die AfD bis zu 20 Prozent der Wähler und mehr für sich gewinnen könne, und zwar kontinuierlich, dann könne er diese nicht mehr als Protestwähler werten. „Das sind Leute, die Lügen und Ressentiments aufsitzen. Der sogenannte Bodensatz kerniger Antisemiten ist anscheinend viel größer, als wir alle uns das haben jemals vorstellen können. Und eine Erkenntnis aus den vergangenen Jahren ist, dass sich dieser Antisemitismus auf die gesamte Gesellschaft verteilt, dass er in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, und das schließt leider auch die Schulhöfe und Klassenzimmer ein.“

Treffen in der Ruine

Lehrer kennt natürlich das Foto von Leo Baeck aus dem Düsseldorfer Landtag im Jahr 1954. Doch die Juden hätten mit den Füßen abgestimmt, sagt er, und zwar anders, als Baeck angenommen hat. „Wenn es Anfang der 50er Jahre zwischen 50 und 80 Juden gab, die sich in der Ruine der Synagoge in der Roonstraße getroffen haben, so sind bald nicht allein jüdische Deutschstämmige dazugekommen, sondern Einwanderer aus Ungarn, Polen, Rumänien und anderen Ländern.

Und so wuchs die jüdische Gemeinde in Deutschland und auch in Köln, die Zahl wurde kontinuierlich größer.“ Zu Beginn war die neuaufgebaute Synagoge in der Roonstraße, die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, überdimensioniert – es passen 500 Leute hinein. „Heute bin ich dankbar“, so Lehrer, „gerade vor dem Hintergrund, dass durch den Zuzug von Juden aus dem ehemaligen Ostblock die Gemeinden ungeheuer gewachsen sind. Sie machen heute drei Viertel der Mitglieder aus.“

Juden wird Wucher und Brunnenvergiftung vorgeworfen

Lehrer ist einer derjenigen, die das Festjahr „1700 Jahre jüdischen Leben in Deutschland“ angestoßen und organisiert haben. Da Konstantins Dekret sich ausdrücklich an die Colonia Ara Agrippinensium wandte und Dokumente aus dieser Zeit äußerst rar sind, empfindet sich die Kölner Gemeinde als die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen. Warum sich seit dem Jahr 321 nichts daran geändert hat, dass den Juden Verschwörung, Wucher, Brunnenvergiftung und welche bösen Absichten mehr unterstellt werden – darauf finden weder das Düsseldorfer Podium noch der Kölner Gemeindevorstand so recht eine Antwort.

1700 Jahre nach Konstantin herrscht Ratlosigkeit vor. Nur eines dürfte sicher sein, und das formuliert im Landtag Grisha Alroi-Arloser: „Antisemitismus in Deutschland hat weniger etwas mit den Juden zu tun als damit, wie die deutsche Gesellschaft verfasst ist.“

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