Meistgelesen2022 Armut – Kölnerinnen erzählen vom Leben zwischen Sorgen und Scham

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Armen Menschen in Deutschland setzte die Pandemie besonders hart zu. Jetzt kommen die Folgen des Kriegs gegen die Ukraine hinzu.

Armen Menschen in Deutschland setzte die Pandemie besonders hart zu. Jetzt kommen die Folgen des Kriegs gegen die Ukraine hinzu.

  • Die Kölnerin Marina R. hat 903 Euro im Monat zum Leben. Die Pandemie hat ihre Lage noch verschlechtert.
  • Die Tafeln schlossen zeitweilig,Flaschen zum Sammeln gab es kaum. Jetzt kommt die Inflation hinzu und wer arm ist, wird noch ärmer.
  • Hier erzählen sie und weitere Betroffene von ihren Sorgen – und ihrer ungeheuren Scham.
  • Dieser Text ist zuerst am 2. April 2022 erschienen.

Manchmal fühlt sich Marina R. unsichtbar. Wenn sie in diesen Tagen in der Bahn durch Köln fährt, begegnet sie Menschen, denen es genauso gehen muss. Sie sieht es an ihren Gesichtern, ihrem Gang, ihrer Kleidung. „Ich erkenne die Armut,“ sagt sie. „Man kann sie riechen.“ Sie sei so offensichtlich. Aber es werde so getan, als gäbe es sie nicht. „Mit der Pandemie ist es nur noch schlimmer geworden.“ Die beiden letzten Jahre haben die Armen besonders hart getroffen, die Ungleichheit in der Gesellschaft verstärkt, besagen Studien.

Zur Krise kommt nun der Krieg.  Die Kosten für Energie und Lebensmittel steigen, die Inflation ist auf ein Rekordhoch gesprungen. "Wir werden ärmer", sagt Wirschaftsminister Robert Habeck. Und schiebt hinterher, dass die Belastung gereicht verteilt werden soll. Eine ungeheure Herausforderung, denn jetzt schon leiden Arme überdurchschnittlich unter den Erschütterungen. Was das heißt? „Viele, die vorher schon wenig hatten, haben jetzt fast nichts mehr“, übersetzt Marina R. Dabei gehe es nicht nur um Geld, sondern um Nöte und Ängste, die keinen statistischen Effekt zeigen. Davon will sie gern öffentlich erzählen, wenn auch nicht unter ihrem echten Namen. Neben den Sorgen bedrückt sie eine ungeheure Scham.

Marina hat 683 Euro zum Leben

Seit vier Jahren erhält die 51-Jährige eine Erwerbsminderungsrente von 683 Euro. Das Sozialamt stockt den Betrag um 220 Euro auf. Mehr hat sie nicht zum Leben und gehört damit zu den Armen in Deutschland. Arm ist, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Damit ist das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen gemeint.

Man spricht von relativer Armut, weil sie ins Verhältnis zum Lebensstandard des jeweiligen Landes gesetzt wird. Laut dieser Definition waren 2020 rund 13,4 Millionen Deutsche betroffen. Darunter sind unverändert die gleichen Bevölkerungsgruppen zu finden: Haushalte mit drei und mehr Kindern (30,9 Prozent), Alleinerziehende (40,5 Prozent), Erwerbslose (52 Prozent) und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen (30,9 Prozent). Einkommensarmut plagt weiterhin Menschen mit Migrationshintergrund (27,9 Prozent) und ohne deutsche Staatsangehörigkeit (35,8 Prozent).

Wohnen verschlingt den größten Anteil ihres Budgets

Marina R. weiß, wie schnell das gehen kann. Und trotzdem ist es ihr peinlich, sagt sie immer wieder. Die Kölnerin ist noch ein Teenie, als man bei ihr eine chronisch psychische Erkrankung feststellt. Sie schafft es dennoch durch die Schule, studiert Sozialpädagogik und arbeitet schließlich in einem guten Job. Mit Mitte 40 allerdings kann sie nicht mehr, die Beschwerden werden zu heftig und sie muss die Arbeit aufgeben. Seither ist alles anders. Das meiste von dem wenigen Geld - 440 Euro - verschlingt die Wohnung, Sie lebt auf 28 Quadratmetern.

Marina R. ist auf eine Psychotherapie angewiesen und sie wird regelmäßig von einem Fachdienst zuhause besucht, der ihr durch den Alltag hilft. Sie leidet außerdem an Neurodermitis, an Allergien, braucht spezielle Medikamente und Kleidung. Rücklagen hat sie keine. „Ich gehe auf keine Geburtstagsparty, auch wenn ich eingeladen bin. Ich kann mir kein Geschenk leisten.“ Treffen auf eine Tasse Kaffee?  Undenkbar.

Der Gang zur Tafel kratzt an der Würde

Sie überlegt, wo sie noch sparen kann. Irgendwann stellt sie sich zum ersten Mal bei einer Tafel an. „Das ist nicht einfach“, sagt sie. „Das kratzt an der Würde.“ Natürlich ist sie froh, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt. Weil es hier nicht nur zu essen gibt, sondern auch Informationen, Zuwendung, sie hört sich wieder mit anderen Menschen sprechen. Dann kommt Corona – und die Tafel ist geschlossen.

Im ersten Pandemiejahr 2020 beträgt die Armutsquote in Deutschland 16,1 Prozent und ist im Vergleich zum Vorjahr um 0,2 Prozentpunkte gestiegen. Nur. Das ist zahlenmäßig keine große Erschütterung und mag daran liegen, dass die Unterstützungsmaßnahmen von Bund und Ländern Schlimmeres verhindern konnten, wie der Paritätische Gesamtverband in seinem jüngsten Armutsbericht erklärt. Demnach hatten 80 Prozent der Deutschen überhaupt keine Einkommenseinbußen durch die Pandemie zu verzeichnen.

Selbständige sind unter die Armutsschwelle gerutscht

Anders sieht es bei den Selbständigen aus, von denen mehr als sonst unter die Armutsschwelle gerutscht sind. Viele wie Marina R. waren allerdings schon da. Dass man auch unterschwellig noch tiefer sinken kann, wird kaum zur Kenntnis genommen. Dieses Elend ist nicht wirklich messbar. „Es ist allerhöchste Zeit, armutspolitisch gegenzusteuern“, heißt es deshalb in einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und mehrere Minister, den der Paritätische Wohlfahrtsverband Anfang des Jahres verbreitete. 

Nun legt der Verband nach: Auch unter den Folgen des Krieges leiden einmal mehr die Armen und Schutzbedürftigen am meisten. Die nun in Aussicht gestellten Entlastungen - zu wenig, nicht zielgenau. „Es braucht substanzielle Hilfen", mahnt Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Verbands. „Der Regelsatz muss rauf." Immer heißt es sofort. Jedes Sofort ist überfällig.

Dramen am Rande

Die Tafel ist zunächst geschlossen. „Und irgendwann bin ich los und habe Flaschen gesammelt.“ Von denen stehen in Pandemiezeiten weniger als sonst herum. Getrunken wird zuhause, nicht mehr draußen in geselliger Runde. „Ich brauchte Desinfektionsmittel und Masken, das wurde ja verlangt und ich wollte mich auch an die Regeln halten.“ Geld hat sie dafür nicht. Die Psychotherapie ist vorübergehend nur online möglich, das Datenvolumen aber reicht nicht aus.

Die Rechnung über die gestiegenen Energiekosten zahlt sie nun in Raten. Die ambulante Hilfe kommt eine Zeitlang nicht mehr ins Haus, mit dem Sozialamt wird alles telefonisch oder per Mail geregelt. Marina R. fühlt sich eingesperrt und ausgeschlossen. Der Stress hinterlässt Spuren auf der Haut und in der Seele. Im Winter fällt sie in eine heftige Depression. „An manchen Tagen traue ich mich auch heute noch nicht aus dem Haus.“

Währenddessen nimmt sie Pakete für ihr Nachbarn an, die damit so manche Einschränkungen kompensieren können. Das verbittert sie nicht, aber es überfordert sie. „Die Pandemie hat mich komplett zurückgeworfen und ich bin nicht die einzige. Am Rande spielen sich Dramen ab, die keiner sieht.“

Zur Armut kommen die Schulden

Wenig Einkommen ist das eine. Hinzu kommt, dass sich viele, die wenig haben, leichter verschulden. „Fakt ist, dass alle Haushalte die Sozialleistungen beantragen, auf einem Existenzminimum leben. Diese Menschen müssen sehr gut haushalten und kleine Abweichungen bringen das gesamte Konstrukt ins Wanken“, sagt Anne Schneider. Sie ist seit 20 Jahren in der in der Schuldner- und Insolvenzberatung beim Caritasverband für die Stadt Köln tätig und nennt die häufigsten Ursachen für Überschuldung: Arbeitslosigkeit, Trennung, Tod, Scheidung, chronische Krankheit, wirtschaftliche Unerfahrenheit. Nach Abzug der fixen Lebenshaltungskosten ist kein Geld mehr übrig, um die Gläubiger zu bedienen. Selbst wenn die ursprüngliche Forderung noch zu leisten wäre, es folgen Mahnungen, Verzugszinsen – und dann nimmt die Abwärtsspirale ihren Lauf. „Niemand verschuldet sich mutwillig“, sagt Anne Schneider. Die Pandemie hat zusätzliche Dynamik in ihre Arbeit gebracht, neue Kunden kommen zu ihr: Die Frau, deren Mann an Corona stirbt und die jetzt die gemeinsamen Kredite alleine tilgen soll. Die Witwenrente ist zu klein, das Gehalt zu gering – und die Kinder müssen auch versorgt werden.

Der Tattoo-Studiobesitzer, der seinen Betrieb pandemiebedingt aufgeben muss, dessen Verpflichtungen jedoch erstmal weiterlaufen. Er kann nun von Glück sprechen, dass er von seiner Großmutter aufgefangen wird bis das Arbeitslosengeld fließt. „Manche, die in Not geraten sind, haben gar keinen Antrag auf Unterstützung gestellt oder zu spät, weil sie dafür Hilfe gebraucht hätten,“ so Schneider.  Ämter wie das Jobcenter konnten aber über Monate keine Präsenzberatung anbieten und nicht jeder Bedürftige verfügt über notwendige digitale Kompetenzen, geschweige denn über einen digitalen Zugang.

Sorgen bereiten auch junge Menschen im Niedriglohnsektor

Schneider sieht außerdem besorgt auf die vielen jungen Menschen im Niedriglohnsektor. Deren einziger Weg aus der Armutsfalle sei eine solide Ausbildung. „Aber da jetzt auch Ausbildungsbetriebe schließen mussten, fallen die Chancen für ein Fortkommen noch geringer aus.“  Warten auf Besserung der allgemeinen Lage, heißt es jetzt. Doch Zeit vergeht nie spurlos. „Mit 30 haben die wenigsten Lust, noch eine Lehre zu beginnen.“ Angesichts dieser Entwicklung rechnet Anne Schneider mit mehr Privatinsolvenzen und fügt gleich hinzu: „Ich bin froh, dass es die Entschuldungsoption gibt.“ Sie bietet die Möglichkeit, nach drei Jahren wieder schuldenfrei zu sein.

Allein diese Perspektive gibt vielen Menschen wieder Mut. Das Problem: „Die Schuldnerberatungsstellen sind jetzt schon massiv überlaufen, für eine Stadt wie Köln gibt es zu wenig Personal und zu wenig Geld dafür.“ Die Beratung ist kostenlos und die Warteliste lang. „Aber wir versuchen so schnell wie möglich einen Termin anzubieten“, sagt Schneider und fordert jeden Betroffenen auf, sich diese Hilfe zu suchen.

Angst vor dem Neuanfang in der Krise

Saskia Steingass hat den Weg während der Pandemie zur Caritas gefunden, die Privatinsolvenz läuft. Ihre Tochter ist vier Monate alt als sich Corona breitmacht. Die 26-Jährige ist alleinerziehend, arbeitslos und lebt von Hartz IV. „Eigentlich wollte ich durchstarten, sobald mein Kind in der Kita ist“, erzählt sie. Aber die Bewerbung auf eine Stelle muss warten. Erst sei die Kita lange Zeit geschlossen gewesen, jetzt ist das Kind immer wieder mal in Quarantäne und eine alternative Betreuung gebe es nicht: Steingass‘ Mutter ist herzkrank und fällt deshalb aus.

„Wie soll ich in dieser Situation einen Job finden? Die Kinder werden jeden Tag getestet und ich muss immer damit rechnen, dass wir zuhause bleiben müssen.“ Eine weitere Sorge kommt hinzu. Selbst wenn sie einen Job fände: „Ich hätte Angst, dass man mir in der Probezeit kündigt, weil ich mich immer wieder zuhause um mein Kind kümmern muss.“ Es würde bedeuten, sich wieder arbeitslos zu melden und erneut Unterstützung zu beantragen. Doch ehe die Bewilligung kommt und das Geld fließt, können Wochen vergehen. Wochen, die sie finanziell nicht überbrücken könnte. „Ich habe keine Ersparnisse. Im Gegenteil, ich habe Schulden.“ Das Risiko will sie nicht eingehen. Allein die Vorstellung, die Miete nicht zahlen zu können, dann möglicherweise vor einer Räumungsklage zu stehen, das Kind nicht ernähren zu können. „Niemand kann mir im Moment die Sicherheit geben und es interessiert auch keinen. Also bin ich gezwungen, erstmal arbeitslos zu bleiben.“

Das heißt, weiterhin jeden Cent umdrehen: 1019 Euro erhält sie vom Jobcenter, 219 Euro Kindergeld und 175 Euro Unterhaltsvorschuss. Allein die Fixkosten betragen mehr als 1000 Euro. Für die 44-Quadratmeter-Wohnung zahlt sie 600 Euro monatlich. Der Durchlauferhitzer verursacht vergleichsweise hohe Stromkosten. Handy, Internet, Kleidung, Pampers. Frisches Gemüse, Obst und Fleisch. „Natürlich kann man mit wenig Geld glücklich sein“, sagt sie. Aber der Regelsatz reiche nicht aus. „Wir leben vom Kindergeld und dem Unterhaltsvorschuss und selbst wenn ich pingelig bin, habe ich in der letzten Woche des Monats manchmal nichts mehr.“ Sie pflegt außerdem ihre Mutter. „Das ist gerade meine Arbeit, für die ich natürlich kein Geld bekomme.“ Sie selbst muss gesund bleiben, funktionieren, wie sie sagt.

Sie hält sich für stark. „Es gibt Menschen, die leben auf der Straße. Die sind wirklich arm dran.“ Umso dankbarer sei sie für die Hilfe, die sie durch die Wohlfahrt erfährt. „Die hören zu, versuchen zu verstehen, wie ist es so weit gekommen ist, und sind mit Herz dabei. Solche Menschen sollte es mehr geben.“

Es ist genau das, was auch Marina R. jenseits des Geldes umtreibt: Armut grenzt aus. Armut hat keinen Platz.  „Ich habe eine Vision von einer solidarischen Welt“, sagt sie. In der Bedürftige am normalen Leben teilhaben können. „Vielleicht haben wir ja doch nochmal eine Chance, uns nützlich zu machen und aus dieser Situation herauszukommen.“ Dafür müsse man sich austauschen, wirklich kennenlernen und erkennen, dass arme Menschen Menschen sind. „Man müsste wieder sichtbar sein.“

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