Armut in Deutschland wächst„Die untere Hälfte toleriert das irgendwann nicht mehr”

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Flaschensammler sind in einigen Deutschen Großstädten ein häufiges Phänomen. (Symbolbild)

  • Der VWL-Professor Moritz Schularick, der am Exzellencluster der Uni Köln forscht, kommt in seiner neuen Studie über Ungleichheit von Vermögen in Deutschland zu erschreckenden Ergebnissen.
  • Ein Gespräch über die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, eine Vermögenssteuer und bislang ineffektive Versuche der Politik, gegenzusteuern.
  • Über die Riester-Rente etwa sagt er: „Ich habe sie bis heute nicht verstanden, und ich bin VWL-Professor.”
  • Und er fragt: „Wie viel Ungleichheit sind wir bereit zu tolerieren, ohne uns zu beschweren, die AfD zu wählen oder anderen Blödsinn zu machen?”

Herr Schularick, Sie haben in Ihrer Studie herausgefunden, dass die reichsten 50 Prozent der Deutschen ihr Vermögen seit der Wiedervereinigung verdoppelt haben. Wie erklären Sie sich diese Zuwächse?

An der Spitze war es sogar noch ein bisschen mehr. Der wichtigste Grund dafür sind steigende Vermögen bei Immobilien und den Aktien.

Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaft besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung etwa die Hälfte des Vermögens, die ärmste Hälfte besitzt fast nichts. Ihrer Studie zufolge haben die Ärmeren sogar noch an Vermögen verloren.

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Der Anteil, der den unteren 50 Prozent gehört, hat sich seit der Wiedervereinigung fast halbiert. Die Zahlen sind ohnehin schon gering. Den unteren 50 Prozent gehörten in den 1990er Jahren gut fünf Prozent des Vermögens. Dieser Anteil hat sich seit 1990 noch mal halbiert. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Ein Haushalt aus den oberen zehn Prozent war 50-mal reicher als einer aus den unteren 50 Prozent. Das hat sich verdoppelt. Heute ist er 100-mal reicher.

Wie gerecht geht es in Deutschland zu?

Wir zeigen in unserer Studie, dass die ärmere Hälfte kaum von der Steigerung an den Immobilien- und Aktienmärkten profitiert hat. Wir müssen akut darüber nachdenken, wie die untere Hälfte wieder zu Vermögenswachstum kommt. Das ist eine Aufgabe, die gesellschaftlich geboten ist. Unsere Studie ist zum ersten Mal ein starker und empirischer Befund, dass es in Deutschland eine zunehmende Spreizung der Vermögen gibt. Die Schere geht weiter auseinander. Das hat Auswirkungen auf die politische Situation, wenn man zum Beispiel an den Populismus in Form extremer Parteien denkt. Es gibt einen ökonomischen und sozialen Hintergrund, auf dem diese Phänomene in den letzten Jahren wuchsen.

Deutschland gilt als eines der Länder, in denen ein sozialer Aufstieg besonders schwierig ist. Fördert dies Resignation bis Unmut in der Bevölkerung?

Das ist ein Punkt, über den man mehr nachdenken muss. Bis zu unserer Studie gab es nur unzureichende Anzeichen, dass die Ungleichheit in Deutschland wächst. Der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht ist es in den letzten 25 Jahren sehr gut gegangen, weil sie viele Immobilien besitzen. Und die Immobilienpreise sind extrem gestiegen. Den wirklich Reichen ist es extrem gut gegangen, weil die Unternehmensgewinne sprudelten. Die, die ihr Geld auf den Sparkonten hatten, weil sie sich keine Aktien oder Immobilien leisten konnten, deren Geld ist in den letzten 25 Jahren nicht mehr geworden.

Der Ökonom Thomas Piketty hat Ihre Studie kommentiert und sagt: Die große Konzentration von Reichtum und wirtschaftlicher Macht an der Spitze sollten Deutschland und Europa insgesamt Sorgen bereiten. Hat er recht?

Das ist eine große Frage, die ich mit einem bedingtem Ja beantworten würde. Unsere Studie zeigt, dass wir auf einem Pfad sind, der nicht sozial nachhaltig ist. Eine Situation, in der die Wachstumsraten der Vermögen in der oberen Hälfte dauerhaft höher sind als die der anderen, führt zu einer sozialen Spreizung. Irgendwann wird sie von der unteren Hälfte nicht mehr toleriert werden. Niemand weiß aber genau, wo die Sollbruchstelle einer Gesellschaft verläuft, wenn es um Fragen der Ungleichheit geht. Wie viel Ungleichheit sind wir bereit zu tolerieren, ohne uns zu beschweren, die AfD zu wählen oder anderen Blödsinn zu machen? Das ist eine Frage, die jede Gesellschaft und jede Zeit neu verhandeln muss. Ich denke, wir sehen im Zuge der Coronakrise, wie wichtig die Rolle einer Supermarktverkäuferin oder einer Krankenschwester ist. Es sind immer die Zeiten der Krisen, der Kriege, der Epidemien, wo man zu einer neuen Einschätzung der gesellschaftlicher Solidarität kommt.

Sie haben die Vermögen von 1895 bis 2018 analysiert. Wie haben sich die Vermögensunterschiede historisch entwickelt?

Die Vermögen, wir sprechen von dem obersten ein Prozent, waren im Kaiserreich extrem konzentriert. Es war die Zeit der Krupps, der Thyssens und der wenigen großen Industriefamilien, die extreme Vermögen angehäuft haben. Dann gibt es eine Generation, zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in der sich die Vermögen der Reichen halbiert haben. Das reichste Prozent besaß nicht mehr 50, sondern nur noch 25 Prozent. Ungefähr bei dieser Marke ist es seitdem auch geblieben. Das muss man sich vergegenwärtigen: Einem Prozent der Haushalte gehören 25 Prozent der Vermögen in Deutschland. Seit der Wiedervereinigung hat sich der Wert nur ein bisschen erhöht.

Zur Person Moritz Schularick

Moritz Schularick ist Direktor des Macro-Finance Labs und Professor für Makroökonomie an der Universität Bonn, Mitglied des Exzellenzclusters Ecotribute der Uni Köln und Bonn sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er ist zudem Forschungsprofessor an der New York University und hatte im Jahr 2016 die Alfred-Grosser-Professur as Sciences Po in Paris inne. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Finanzmärkten und Vermögenspreisen, Fragen der monetären Makroökonomie und den Ursachen von Finanzkrisen und ökonomischer Ungleichheit. Seine Aufsätze sind in wie der „American Economic Review“, dem „Quarterly Journal of Economics und dem „Journal of Political Economy“ erschienen. Er berät regelmäßig Zentralbanken, Finanzministerien, Investoren und internationale Organisationen. Im Jahr 2018 erhielt er den Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik, die wichtigste Auszeichnung deutscher Volkswirte. (red)  

Sozialer Zusammenhalt kann nur gelingen, wenn alle am Wachstum und Erfolg unserer Gesellschaft teilhaben, sagte Olaf Scholz zu Ihrer Studie. Welche Maßnahmen muss er treffen, damit dass gelingt?

Wir müssen mehr für den Vermögensaufbau der unteren 50 Prozent tun. Es gab mit der Riester-Rente mal einen Ansatz. Das ist schiefgegangen, weil es zu bürokratisch und kompliziert war. Ich habe es bis heute nicht verstanden. Und ich müsste es verstehen, denn ich bin VWL-Professor. Das Sparverhalten der unteren 50 Prozent ist komplett auf das Sparbuch eingestellt. Dort gibt es aber keine Zinsen mehr. Man müsste ihnen die Möglichkeit geben, stärken in Immobilien oder Aktien zu investieren. Das ist nicht einfach. Denn diese Menschen können es sich nicht leisten, große Risiken einzugehen. Sie brauchen das Geld, wenn es brennt. Wir sehen es gerade: Der Dax ist in der Coronakrise um 5000 Punkte eingebrochen. Ein Kfz-Mechaniker kann es sich nicht leisten, dass sein Geld plötzlich 30 oder 40 Prozent weniger wert ist. Vielleicht verliert er auch gerade seinen Job, weil es in eine Rezession geht.

Haben Sie eine Lösung?

Der Staat muss zum Beispiel Finanzprodukte anbieten, die dieses Preisrisiko absichern, aber gleichzeitig ärmeren Haushalten Zugang zu Vermögenszuwächsen ermöglichen.

Wären Sie für eine Vermögenssteuer?

Da gibt es Fragezeichen in viele Richtungen. Werden weniger Unternehmer aktiv, transferieren sie Geld ins Ausland? Was machen wir mit dem Geld? Auf der anderen Seite muss man Folgendes auch bedenken: Bei den Vermögen reden wir über Steuern von vielleicht zwei Prozent pro Jahr für Menschen, die zwei Millionen Euro oder mehr haben. Bestehendes Vermögen wie eine Immobilie wirft jedes Jahr Erträge ab in Form von Mieten und wird darüber hinaus auch wertvoller wegen der höheren Nachfrage. Wir haben in unserer Studie ausgerechnet, dass die langfristigen Renditen aus Vermögen in Deutschland bei acht Prozent pro Jahr liegen. Das heißt: Jeder der Vermögen hat, wird jedes Jahr um acht Prozent reicher. Bei einer Vermögenssteuer von zwei Prozent können die meisten das aus den Vermögenszuwächsen gut bezahlen. Man würde nicht die Substanz besteuern, sondern die Erträge.

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