„Klein Moskau“ von KölnIn Chorweiler wächst die Angst – Diskriminierungen im Alltag

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Tatjana Rudnitskaya stammt aus Russland und hat auf dem Pariser Platz eine klare Meinung.

Köln – Bis vor kurzem galten sie alle als Russen, obwohl das natürlich nicht richtig ist. Aber in den Plattenbauten von Chorweiler fühlten sich die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stammenden Bewohner stets als eine Community – egal, ob sie ihre Wurzeln in Kasachstan, Georgien oder Tadschikistan haben. Seit Putins Angriff auf die Ukraine ist plötzlich alles anders. Ein Ortsbesuch zeigt, wie sehr der sozialen Frieden in der Hochhaussiedlung in Gefahr ist.

Die Frühjahrssonne hat drei ältere Damen zum Spaziergang nach draußen gelockt. Zwei von ihnen schieben ihren Rollator langsam über den Pariser Platz, der noch kalte Wind bläst ihnen ungemütlich entgegen. Über das Wetter sprechen die drei Russinnen gerne, wie sich schnell zeigt – über den Krieg in der Ukraine dagegen weniger. Und das Trio ist sich uneins.

Russinnen in Köln-Chorweiler streiten über den Krieg in der Ukraine

Putin handele richtig, meint die eine und beginnt mit fragwürdigen Behauptungen. Gorbatschow sei betrunken gewesen, als die Ukraine unabhängig wurde. Dieses Land wolle immer nur Präsente, so wie der einstige Parteichef Chruschtschow 1954 der Ukraine die Krim geschenkt habe.

Das sei völliger Blödsinn, widerspricht Tatjana Rudnitskaya: „Putin ist eine Tragödie, er ist eine Katastrophe. Putin lügt uns an. Ich wohne in einem freien Land, deswegen muss ich keine Angst davor haben, solche Sachen zu sagen.“ Während sie redet, grätscht die Dritte im Bunde immer wieder dazwischen: Sie solle aufhören zu reden, das könne alles gegen sie verwendet werden.

Köln-Chorweiler: Krieg in der Ukraine führt zu Diskriminierungen

Der Streit der drei Frauen ist exemplarisch für das, was in diesen Tagen im Kölner Norden immer häufiger geschieht. Der Krieg trifft viele dort lebende Russinnen und Russen oder solche, die dafür gehalten werden. Eine junge Frau, die anonym bleiben möchte, berichtet, wie sie mir ihrer Freundin auf der Straße von einem „gut angezogenen Mann" aufs Übelste beleidigt worden sei. „Wir hatten leise russisch miteinander gesprochen." 

Es bleibt nicht nur bei verbalen Attacken. „Kinder und Jugendliche werden von Klassenkameraden unter Druck gesetzt. Sie sollen sich öffentlich vom Krieg und von Russland distanzieren“, weiß Streetworker Roman Friedrich. Weigern sie sich, würden sie gemobbt oder teilweise sogar verprügelt. Von mehr als zehn solcher Fälle hätten ihm besorgte Eltern bereits berichtet. Friedrich schätzt, dass die Dunkelziffer viel höher ist.

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Auch deshalb sieht sich der Streetworker zum Handeln gezwungen. Seit wenigen Tagen gibt es eine Hotline, an die sich Betroffene wenden können. Unter 0160/97550998 erhalten sie Ratschläge und juristische Tipps, wenn sie Opfer von Diskriminierungen geworden sind. Auch eine Webseite ist im Aufbau.

Seit 2007 ist Roman Friedrich Streetworker im Stadtteil des Kölner Norden, der neben Porz-Finkenberg und dem Kölnberg in Meschenich auch als „Klein Moskau“ von Köln gilt. Im gleichnamigen Stadtbezirk Chorweiler stammen von den rund 80.000 Einwohnern etwa 12.000 Bewohner aus dem postsowjetischen Raum, sagt Friedrich, der selbst Russland-Deutscher ist.

Seine jahrelange Arbeit hat Früchte getragen, denn es gibt auch in Chorweiler Ukrainer und Russen, die sich gemeinsam engagieren, um der Bevölkerung im Kriegsgebiet zu helfen. In einem ehemaligen türkischen Café sammeln sie in Kooperation mit dem Verein „Blau-Gelbes Kreuz“ Kleidung und Lebensmittel.

Köln-Chorweiler: Krieg schürt die Angst vor Abwärtsspirale

Mehr als 80 Prozent der Einwohner des Stadtteils haben einen Migrationshintergrund; der Anteil der Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger ist hier um ein Vielfaches höher als in der Gesamtstadt Köln. „Viele Bewohner – unabhängig ihrer Herkunft – die einen Arbeitsplatz haben, sorgen sich um die Zukunft“, sagt Friedrich mit Blick auf die derzeit steigenden Preise. „Das sind Leute, die sich ihr Brot hart erarbeitet haben. Leute, die trotz ihrer Chorweiler Herkunft einen guten Schulabschluss erzielten oder die sich als Migranten mehr beweisen mussten als ihre Kollegen.“ Viele von ihnen hätten Armuts-Vorerfahrungen gemacht. Der Krieg schüre nun die Angst, wieder in eine Abwärtsspirale zu geraten.

Für Alexander Belozerkowez geht es schon bald um die Existenz, fürchtet der Inhaber eines Lebensmittelgeschäfts mit Produkten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. „Ich bekomme keine Lieferungen mehr aus Russland, aber auch keine aus der Ukraine.“ Sein Geschäft im City-Center ist an diesem Tag gut besucht. Die ersten Hamsterkäufe liegen auf dem Laufband zur Kasse. Eine Kundin hat gleich mehrere Tüten Buchweizen darauf gelegt.

Die Nerven liegen zunehmend blank im Veedel. „Die Nationalität spielte jahrelang keine Rolle. Die meisten hier stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Jetzt ist dieser verdammte Krieg – und ich werde als Russe beschimpft?!“, empört sich Belozerkowez. Dann erzählt er, was sich vor wenigen Tagen in seinem Laden abgespielt hat. Ein Ukrainer habe eine blau-gelbe Fahne seines Heimatlandes aus dem Regal genommen. „Er wollte sie geschenkt haben. Er meinte, das sei ich als Russe ihm schuldig – dabei bin ich gar kein Russe!“ Fast sei es zu Handgreiflichkeiten gekommen.

Chorweiler Geschäftsmann bekommt Hass-Brief: „Helft eurem Putin ...“

Dann zeigt er einen Hass-Brief, den er bekommen hat: „Haut endlich hier aus Deutschland ab und helft eurem Putin, mal ein Land ohne Gewalt aufzumischen“, heißt es unter anderem darin. Und dass er seine Koffer packen und nach Moskau abhauen solle.

Belozerkowez kam vor 30 Jahren als Spätaussiedler aus Tadschikistan nach Köln. Ob er nun russischen Wodka oder „Roshen“, den Schokoriegel aus der Firma des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko im Angebot hat – es spielte bis vor wenigen Tagen keine Rolle. Auch dass die Ukraine-Flagge neben einer Mütze mit der Aufschrift „Russia“ im Regal liegt war egal. Der Geschäftsmann ist noch immer sichtlich aufgebracht: „Es geht doch darum, dass dieser Krieg so schnell wie möglich aufhört. Ich verstehe die Provokationen nicht.“

Köln-Chorweiler: Streetworker kämpft gegen Stellvertreter-Krieg

Es seien genau solche Fälle, die nun zunehmend zu beobachten seien. „Einige wenige versuchen jetzt einen Stellvertreter-Krieg anzuzetteln“, sagt Roman Friedrich. Aber so etwas kenne er, sagt der erfahrene Streetworker. „Das hatten wir damals schon bei den Kurden und Türken hier in Chorweiler.“ Seit 2007 habe es bei den Beleidigungen immer wieder Wechsel gegeben. „Früher war es ,Scheiß Jude‘, dann hieß es eine Zeit lang ,Scheiß Türke‘. Seit ein paar Tagen ist es ,Scheiß Russe‘.“ 

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