Das ambivalente Wesen

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Mülheim –  Kunstausstellungen in Kirchen lassen gewöhnlich keinen Zweifel: An einem solchen Ort geht es nicht einfach um Verschönerung, sondern um die Beschäftigung mit elementaren Fragen der menschlichen Existenz. In der Kirche St. Clemens präsentieren gleich acht Künstler „Menschenbilder“. Dabei geht es keineswegs nur um den Blick auf einzelne Menschen, ihr Aussehen, ihre Bewegungen und was sie tun.

Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass die Art, in der wir einen Menschen betrachten und bildnerisch darstellen, immer schon ein grundsätzliches Menschenbild zugrunde liegt. Ein Menschenbild, das geprägt ist von den Werten und Konventionen einer Kultur, den Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte und einer bestimmten Denkweise. Dementsprechend verrät bereits die Malweise eines Künstlers einiges darüber, wie er nicht nur sich selbst, sondern auch den Menschen im Allgemeinen wahrnimmt und versteht.

So geht Norbert Küpper in seinen Porträts zwar von der realistischen Malerei aus. Doch nur, um mit sattem Farbauftrag und energischen Pinselhieben zu zeigen, wie schwer es dem Menschen fällt, in Zuständen der Belagerung, der heftigsten Reize in ihm und um ihn herum, sein Gesicht zu wahren. Anders gesagt: Unsere Identität ist eine ziemlich schwierige und anstrengende Angelegenheit.

Werner Diefenbach malte diese komplexe Komposition im Motiv zwischen Theaterbühne und Traum.

Werner Diefenbach malte diese komplexe Komposition im Motiv zwischen Theaterbühne und Traum.

Löchrig und erschütterbar erscheint die menschliche Identität auch in den Köpfen, die Rosemarie Stuffer aus Ton geformt hat. Und ähnlich dramatisch, im Spannungsfeld von sinnlicher Kraft und Verletzlichkeit, Stärke und Schwäche, malt Rosario de Simone den gesichtslosen menschlichen Körper in erdig-blutigen Farben. Der Mensch erweist sich in seinen Bildern als ein ambivalentes Wesen, das hin und her gerissen wird von ganz unterschiedlichen Regungen, zwischen Lust, Schmerz und Angst, Bewegtheit und Schwerfälligkeit. Die grundsätzlich ambivalente seelische Struktur des Menschen kann im Zusammentreffen mit gesellschaftlichen Bedingungen zu ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen führen, in denen sich Brüche und Verzerrungen nicht vermeiden lassen. Das zeigen die Porträts von Werner Diefenbach. Die surreale Dimension seiner Kompositionen macht zugleich die unbewussten Kräfte sichtbar, die den Menschen bei weitem mehr bestimmen als ihm lieb ist. In dieser Perspektive erscheint das Leben bisweilen wie ein Traum. Eine drängende Unruhe treibt den Menschen voran, andererseits steckt ihm das Wissen um seine Sterblichkeit in den Knochen. Fabian Hochscheid zeigt diese „Wahrheit“ mit einem altmeisterlich gemalten Schädel. Man kann sich selbst und das jeweilige Menschenbild einer Gesellschaft nicht verstehen, ohne sich damit zu beschäftigen, wie der Mensch den Tod ins Leben einbezieht oder verdrängt. In einem anderen Gemälde thematisiert der malerische Realist Hochscheid am Beispiel seines Selbstporträts unser Verlangen nach ständiger Selbstvergewisserung, so wie wir auch täglich in den Spiegel schauen. Gleichfalls ein Meister in der Kunst des Porträts ist Axel Höptner. In der einfachen Bleistiftzeichnung bringt er die charakteristische Physiognomie im Gesicht eines Menschen ins Bild, als Ausdruck seiner unverwechselbaren Erscheinung, in die sich die Spuren seiner Lebenserfahrung eingezeichnet haben. Bei aller Einzigartigkeit des Menschen gilt ebenso, dass der Mensch von gesellschaftlichen Strukturen und Zwängen bestimmt wird, die ihn bisweilen wie eine Puppe erscheinen lassen.

Simone Bingemer demonstriert im Motiv Barbie-Puppen, wie solche Muster nicht nur ein Ausdruck unseres Menschenbildes sind, sondern dieses nachhaltig prägen. Dem setzt Pauline Ullrich mit ihren Ton-Skulpturen ein anderes Bild von Weiblichkeit entgegen, das die Tradition der Antike und moderne Lebenswirklichkeit miteinander verbindet. Auch in ihrer Kunst wird spürbar: Der Mensch steht zu allererst mit einem Körper in der Welt, in dem ein unendliches Begehren, aber zugleich der Tod wirksam ist. Ein blutiges Stück Fleisch auf einem Bild von Susanne Bingemer verkörpert diese Tatsache im Altarraum von St. Clemens. Während der Mensch dieser Tatsache mit aller Gewalt und vielen Ablenkungsmanövern aus dem Wege zu gehen versucht, tut er sich möglicherweise die größte Gewalt an. Das nüchterne Fleischgemälde schlägt eine inhaltliche Brücke zum ans Kreuz geschlagenen leidenden Christus, der lange Zeit unser abendländisches Menschenbild prägte. In den Jahrhunderten seit der Aufklärung änderte sich im Zeichen von Wissenschaft und Freiheit das Bild das Menschen allerdings mehrfach. Gegenwärtig herrscht der Glaube, der Mensch könne sich beliebig neu erfinden und seine materiell-körperlichen Existenz überwinden. Die Ausstellung macht dagegen sichtbar, dass die digitalen Bildwelten und ihre Menschenbilder elementare Erfahrungen des Menschseins nicht erfassen oder sogar gezielt unterschlagen.

Kirche St. Clemens, Mülheimer Ufer, geöffnet Sa, So 14-17 Uhr, bis 28. Juli

Künstlerin Pauline Ulrich beschäftigt sich in ihren Skulpturen mit dem Bild der Frau. Repro/ Foto: Kisters

Künstlerin Pauline Ulrich beschäftigt sich in ihren Skulpturen mit dem Bild der Frau. Repro/ Foto: Kisters

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