Abo

Letzter Journalist aus Mariupol in KölnKriegsreporter tarnte sich mit Arztkittel

Lesezeit 11 Minuten
Chernov_Ausstellung

Eine hochschwangere Frau vor der zerstörten Geburtsklinik in Mariupol

Köln – Mstyslav Chernov und Yevhen Maloletka von der Presseagentur AP waren die letzten westlichen Journalisten im belagerten Mariupol. Ihre Bilder von der zerbombten Geburtsklinik gingen um die Welt, sie selbst standen auf einer Todesliste der russischen Invasoren.

Ausstellung im Kopelew-Forum

Jetzt ist eine Auswahl von Chernovs Bildern im Lew-Kopelew-Forum in der Kölner Neumarkt-Galerie zu sehen. Über das Entstehen der Bilder, das Leid der Menschen in Mariupol und seine Arbeit diskutiert der weltbekannte Fotograf Mstyslav Chernov bei der Eröffnung am Sonntag, 12. Juni, 16 Uhr, im Kopelew-Forum mit dem WDR-Journalisten Georg Restle, der seit Beginn des Krieges ebenfalls aus der Ukraine berichtet.

Um eine Anmeldung per Mail unter info@kopelew-forum.de oder telefonisch, 0221 257 67 67 wird gebeten. Die Veranstaltung wird live auf Youtube übertragen. https://www.youtube.com/c/LewKopelewForum

Dokumentation eines erschütternden Berichts 

Wir dokumentieren Chernovs Bericht aus Mariupol in deutscher Übersetzung.

Wir waren die einzigen internationalen Journalisten, die sich noch in Mariupol aufhielten, wir hatten die Belagerung der Stadt durch russische Truppen mehr als zwei Wochen lang dokumentiert. Wir berichteten aus dem Krankenhaus, als bewaffnete Männer begannen, durch die Gänge zu schleichen. Die Chirurgen gaben uns weiße Kittel, die wir zur Tarnung tragen sollten. Plötzlich, im Morgengrauen, stürmte ein Dutzend Soldaten herein: „Wo sind die Journalisten, verdammt noch mal?“, schrien sie.

Ich sah auf ihre blauen Armbinden, die für die Ukraine standen, und versuchte zu deuten, ob es sich um verkleidete Russen handelte. Schließlich trat ich vor und gab mich zu erkennen. „Wir sind hier, um Sie rauszuholen“, sagten sie. Die Wände des Operationssaals bebten unter dem Artillerie- und Maschinengewehrfeuer von draußen. Es schien sicherer zu sein, drinnen zu bleiben. Aber die ukrainischen Soldaten hatten den Befehl, uns mitzunehmen.

Wir rannten auf die Straße und ließen die Ärzte, die uns Schutz gewährt hatten, die schwangeren Frauen, die beschossen worden waren, und die Menschen, die auf den Fluren schliefen, weil sie nirgendwo anders hinkonnten, zurück. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich sie alle zurückgelassen hatte.

Unsere Körper verkrampften sich, wir hielten den Atem an

Neun Minuten, vielleicht zehn, eine gefühlte Ewigkeit ging es durch Straßen und zerbombte Wohnhäuser. Als in der Nähe Granaten einschlugen, fielen wir zu Boden. Unsere Körper verkrampften sich, wir hielten den Atem an. Eine Schockwelle nach der anderen durchzuckte meine Brust, meine Hände wurden kalt.

Wir erreichten einen Eingang, gepanzerte Fahrzeuge brachten uns in einen abgedunkelten Keller. Erst dann erfuhren wir von einem Polizisten, warum die Ukrainer das Leben von Soldaten riskiert hatten, um uns aus dem Krankenhaus zu holen. „Wenn sie euch erwischen, werden sie euch vor die Kamera bekommen und euch sagen lassen, dass alles, was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist“, sagte er. „All Ihre Bemühungen und alles, was Sie in Mariupol getan haben, wird umsonst gewesen sein.“

Der Offizier, der uns einst angefleht hatte, der Welt seine sterbende Stadt zu zeigen, flehte uns nun an, zu gehen. Er stupste uns in Richtung der Tausenden von ramponierten Autos, die sich anschickten, Mariupol zu verlassen. Es war der 15. März. Wir wussten nicht, ob wir es lebend herausschaffen würden.

Die Ärzte baten uns, die Familien zu filmen

Die Todesfälle kamen schnell. Am 27. Februar sahen wir, wie ein Arzt versuchte, ein kleines Mädchen zu retten, das von einem Granatsplitter getroffen worden war. Sie starb. Ein zweites Kind starb, dann ein drittes. Krankenwagen holten keine Verwundeten mehr ab, weil die Menschen sie ohne Signal nicht anrufen konnten und sie auf den zerbombten Straßen nicht zurechtkamen.

Die Ärzte baten uns, die Familien zu filmen, die ihre eigenen Toten und Verwundeten hereinbrachten. Sie stellten uns ihren schwindenden Generatorstrom für unsere Kameras zur Verfügung. Niemand weiß, was in unserer Stadt vor sich geht, sagten sie.

Als Teenager, der in Charkiw, nur 20 Meilen von der russischen Grenze entfernt, aufwuchs, lernte ich im Rahmen des Schulunterrichts den Umgang mit einer Waffe. Es erschien mir sinnlos. In der Ukraine, so dachte ich, war ich von Freunden umgeben. 

Ich habe aus dem Irak und Afghanistan berichtet

Seitdem habe ich über die Kriege im Irak, in Afghanistan und im umstrittenen Gebiet von Bergkarabach berichtet und versucht, der Welt die Verwüstungen aus erster Hand zu zeigen. Aber als die Amerikaner und dann die Europäer in diesem Winter ihre Botschaftsmitarbeiter aus Kiew abzogen und als ich mir die Karten des russischen Truppenaufmarsches gegenüber meiner Heimatstadt ansah, war mein einziger Gedanke: „Mein armes Land.“

Ich wusste, dass die russischen Streitkräfte die östliche Hafenstadt Mariupol wegen ihrer Lage am Asowschen Meer als strategische Beute betrachten würden. Am Abend des 23. Februar machte ich mich mit meinem langjährigen Kollegen Evgeniy Maloletka, einem ukrainischen Fotografen der Associated Press, in seinem weißen VW-Bus auf den Weg dorthin. Unterwegs machten wir uns Gedanken über Ersatzreifen und fanden im Internet einen Mann in der Nähe, der bereit war, uns mitten in der Nacht welche zu verkaufen. Wir erklärten ihm und einer Kassiererin im Nachtladen, dass wir uns auf den Krieg vorbereiteten. Sie sahen uns an, als wären wir verrückt. Um 3.30 Uhr morgens fuhren wir in Mariupol ein. Eine Stunde später begann der Krieg.

Rauch stieg aus der Entbindungsklinik auf

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits Tote im Krankenhaus, Leichen auf den Straßen und Dutzende von Leichen gesehen, die in ein Massengrab geschoben wurden. Ich hatte so viel Tod gesehen, dass ich fast nur noch filmte, ohne es zu bemerken. Am 9. März zerrissen zwei Luftangriffe das Plastik, mit dem die Fenster unseres Lieferwagens verklebt waren. Ich sah den Feuerball nur einen Herzschlag lang, bevor der Schmerz mein Innenohr, meine Haut und mein Gesicht durchbohrte. Wir sahen, wie Rauch aus einer Entbindungsklinik aufstieg. Als wir ankamen, waren die Rettungskräfte immer noch dabei, blutüberströmte schwangere Frauen aus den Trümmern zu bergen.

Unsere Batterien waren fast leer, und wir hatten keine Verbindung, um die Bilder zu senden. Die Ausgangssperre war nur noch wenige Minuten entfernt. Ein Polizist hörte, wie wir darüber sprachen, wie wir die Nachricht von der Bombardierung des Krankenhauses verbreiten könnten. „Das wird den Verlauf des Krieges verändern“, sagte er. Er brachte uns zu einer Stromquelle und einem Internetanschluss.

Wir hatten so viele tote Menschen und tote Kinder aufgenommen, eine endlose Reihe. Ich verstand nicht, warum er glaubte, dass noch mehr Tote etwas ändern könnten. Ich hatte mich geirrt.

Krankenhaus von Granaten getroffen

Das Krankenhaus und die umliegenden Häuser wurden von Granaten getroffen. Die Fenster unseres Lieferwagens gingen zu Bruch, ein Loch wurde in die Seite gebohrt und ein Reifen zerstochen. Manchmal liefen wir hinaus, um ein brennendes Haus zu filmen, und rannten dann inmitten der Explosionen zurück.

Es gab noch einen Ort in der Stadt, an dem eine stabile Verbindung möglich war: vor einem geplünderten Lebensmittelgeschäft. Einmal am Tag fuhren wir dorthin und hockten uns unter die Treppe, um Fotos und Videos in die Welt zu übertragen. Die Treppe hätte uns nicht viel Schutz geboten, aber es fühlte sich sicherer an, als im Freien zu sein.

Supermarkt wurde geplündert

Am 3. März war das Signal weg. Wir versuchten, unser Video von den Fenstern des 7. Stocks des Krankenhauses aus zu senden. Von dort aus sahen wir, wie die letzten Reste der bürgerlichen Stadt Mariupol zerfielen. Der Port City Superstore wurde geplündert, wir gingen durch Artillerie- und Maschinengewehrfeuer in diese Richtung. Dutzende von Menschen rannten und schoben Einkaufswagen, die mit Elektronik, Lebensmitteln und Kleidung beladen waren.

Eine Granate explodierte auf dem Dach des Ladens und warf mich draußen auf den Boden. Ich spannte mich an, in Erwartung eines zweiten Einschlags, und verfluchte mich, weil meine Kamera nicht eingeschaltet war, um es aufzunehmen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Eine weitere Granate schlug mit einem schrecklichen Zischen in das Wohnhaus neben mir ein. Ein Teenager kam vorbei und rollte einen mit Elektronik beladenen Bürostuhl, aus dem Kisten purzelten. „Meine Freunde waren dort und die Granate schlug zehn Meter von uns entfernt ein“, erzählte er mir. „Ich habe keine Ahnung, was mit ihnen passiert ist.“ Wir eilten zurück zum Krankenhaus. Innerhalb von 20 Minuten kamen die Verletzten herein, einige von ihnen in Einkaufswagen transportiert.

Alle fragten sich, wann der Krieg zu Ende sei

Mehrere Tage war ein Satellitentelefon die einzige Verbindung, die wir zur Außenwelt hatten. Und der einzige Ort, an dem dieses Telefon funktionierte, lag im Freien, direkt neben einem Bombenkrater. Ich setzte mich hin, machte mich klein und versuchte, die Verbindung herzustellen.

Alle fragten mich, wann der Krieg zu Ende sein wird. Ich hatte keine Antwort. Jeden Tag gab es ein Gerücht, dass die ukrainische Armee kommen würde, um die Belagerung zu durchbrechen. Aber es kam niemand.

Etwa ein Viertel der 430.000 Einwohner von Mariupol verließ in diesen ersten Tagen die Stadt. Doch nur wenige Menschen glaubten an einen Krieg, und als die meisten ihren Irrtum erkannten, war es zu spät. Mit ungezählten Bomben kappten die Russen die Strom- und Wasserversorgung, die Nahrungsmittellieferungen und zerbombten schließlich die Mobilfunk-, Radio- und Fernsehtürme. Die wenigen Journalisten, die sich noch in der Stadt befanden, konnten die Stadt verlassen, bevor die letzten Verbindungen gekappt waren und eine vollständige Blockade einsetzte.

Chaos und Straffreiheit ohne Informationen

Mit der Abwesenheit von Informationen bei einer Blockade werden zwei Ziele erreicht. Das erste ist Chaos. Die Menschen wissen nicht, was vor sich geht, und geraten in Panik. Zuerst konnte ich nicht verstehen, warum Mariupol so schnell zusammenbrach. Jetzt weiß ich, dass es an der fehlenden Kommunikation lag.

Straffreiheit ist das zweite Ziel. Ohne Informationen aus der Stadt, ohne Bilder von zerstörten Gebäuden und sterbenden Kindern, konnten die russischen Streitkräfte tun und lassen, was sie wollten. Ohne uns Reporter gäbe es nichts.

Deshalb sind wir solche Risiken eingegangen, um der Welt zu zeigen, was wir gesehen haben, und das hat Russland so wütend gemacht. Ich hatte noch nie das Gefühl, dass es so wichtig war, das Schweigen zu brechen. Die russische Botschaft in London veröffentlichte zwei Tweets, in denen sie die AP-Fotos als Fälschung bezeichnete und behauptete, eine schwangere Frau sei eine Schauspielerin. Der russische Botschafter hielt bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats Kopien der Fotos hoch und wiederholte Lügen über den Angriff auf das Entbindungsheim.

Nur noch ein Propagandasender funktionierte

In der Zwischenzeit wurden wir in Mariupol von Menschen überschwemmt, die uns nach den neuesten Nachrichten über den Krieg fragten. So viele Menschen kamen zu mir und baten mich, sie zu filmen, damit ihre Familie außerhalb der Stadt wisse, dass sie noch lebten.

Zu dieser Zeit funktionierte in Mariupol kein ukrainisches Radio- oder Fernsehsignal. Das einzige Radio, das man empfangen konnte, sendete russische Lügen - dass die Ukrainer Menschen aus Mariupol als Geiseln hielten, auf Gebäude schossen und chemische Waffen einsetzten. Die Propaganda war so stark, dass einige Menschen, mit denen wir sprachen, sie trotz der Beweise, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten, glaubten. Am 11. März fragte unser Redakteur in einem kurzen Telefonat, ob wir die Frauen finden könnten, die den Luftangriff auf die Entbindungsklinik überlebt hatten. Mir wurde klar, dass die Aufnahmen stark genug gewesen sein mussten, um eine Reaktion der russischen Regierung zu provozieren. Wir fanden sie in einem Krankenhaus an der Frontlinie einige mit Babys, andere in den Wehen. Wir erfuhren auch, dass eine Frau ihr Baby und dann ihr Leben verloren hatte.

Wir waren umzingelt

Wir stiegen in den 7. Stock, um das Video über die schwache Internetverbindung zu senden. Von dort aus beobachtete ich, wie ein Panzer nach dem anderen an das Krankenhausgelände heranrollte, jeder mit dem Buchstaben Z gekennzeichnet. Wir waren umzingelt: Dutzende von Ärzten, Hunderte von Patienten und wir.

Die ukrainischen Soldaten, die das Krankenhaus beschützt hatten, waren verschwunden. Der Weg zu unserem Lieferwagen mit unseren Lebensmitteln, unserem Wasser und unserer Ausrüstung war von einem russischen Scharfschützen versperrt, der bereits einen Arzt getroffen hatte, der sich nach draußen wagte.

Es vergingen Stunden in der Dunkelheit, während wir draußen die Explosionen hörten. Dann kamen die Soldaten, um uns zu holen, und schrien auf Ukrainisch.

Wir konnten in jedem Moment sterben

Es fühlte sich nicht wie eine Rettung an. Es fühlte sich an, als würden wir von einer Gefahr zur nächsten gebracht. Zu diesem Zeitpunkt war kein Ort in Mariupol mehr sicher, es gab keine Hoffnung. Man konnte jeden Moment sterben.

Ich war den Soldaten unendlich dankbar, aber auch wie betäubt. Und ich schämte mich, dass ich gehen wollte. Wir quetschten uns mit einer dreiköpfigen Familie in einen Hyundai und fuhren in einem fünf Kilometer langen Stau aus der Stadt heraus. Etwa 30.000 Menschen verließen an diesem Tag Mariupol - so viele, dass die russischen Soldaten keine Zeit hatten, die Autos mit den mit flatternden Plastikfetzen bedeckten Scheiben genau zu überprüfen.

Wir waren die letzten Journalisten

Als wir an den sechzehnten Kontrollpunkt heranfuhren, hörten wir Stimmen. Ukrainische Stimmen. Ich spürte eine überwältigende Erleichterung. Die Mutter im vorderen Teil des Wagens brach in Tränen aus. Wir waren draußen.

Wir waren die letzten Journalisten in Mariupol. Jetzt gibt es keine mehr.

KStA abonnieren