Der Tag, der Köln veränderteDas Minutenprotokoll der Stadtarchiv-Katastrophe

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Bei dem Einsturz des Stadtarchivs starben zwei Menschen.

  • Zehn Jahre ist der Archiveinsturz am Waidmarkt her – es ist ein Tag, der sich tief in die jüngere Kölner Geschichte eingebrannt hat.
  • Was geschah am dritten März 2009? Unsere Redakteure haben den Tag des Einsturzes rekonstruiert.

Am Morgen des 3. März 2009 steigen die Bauarbeiter der Frühschicht in die Baugrube  vor dem Archivgebäude. An der Stelle entsteht ein Gleiswechselbauwerk für die U-Bahn, in dem die Züge im Notfall von einer der beiden Tunnelröhren in die andere fahren können. Rund 28 Meter unter dem Straßenniveau baggern die sieben Arbeiter die  letzte Schicht Erde  weg,  am nächsten Tag soll der Boden betoniert werden. Damit wäre die Sohle abgedichtet.  Schon morgens bemerken sie einen Wassereintritt in der hinteren Ecke der Baugrube, direkt vor dem Wandstück, das sie als „Lamelle 11“ bezeichnen. Besichtigungen finden statt, Fotos werden gemacht und kurz vor der Mittagspause ordnete der Bauleiter an, dort 50 Zentimeter hohe Betonringe einzubauen, damit das Wasser abgepumpt werden kann.

Die Leiterin des Archivs, Bettina Schmidt-Czaia, kauft sich mittags einen Frühlingsstrauß Tulpen für ihr Büro, draußen scheint die Sonne, es ist ein schöner Tag. Um 13 Uhr ist Schmidt-Czaia mit einem Historiker verabredet, um eine Tagung zur rheinischen Geschichte vorzubereiten. Im Lesesaal des Archivs sitzen zehn Menschen an Forschungsarbeiten und studieren Akten aus den Beständen des Archivs. Dass sie und alle Mitarbeiter sich später unverletzt aus dem Gebäude retten können, ist dem Hausmeister und der Lesesaal-Aufsicht zu verdanken, die gegen 14 Uhr alarmierende Geräusche hören und in großer Panik „Raus, raus hier“ rufen.

Eine Lehrerin des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums hat sich ein belegtes Brötchen gekauft beim Bäcker gegenüber der Schule, direkt neben dem Archivgebäude. Als sie zurück über die Severinstraße geht, beobachtet sie Bauarbeiter, die erschreckt auf das Archivgebäude starren, und hört sie sagen: „Ich glaube, das Haus stürzt gleich ein.“ Die Lehrerin beobachtet, wie sich in der Fassade Risse bilden und rennt  zurück ins Schulgebäude. Dort hört der Direktor, dessen Büro über dem Schuleingang   an der Severinstraße liegt, wenig später ein Geräusch, das ihn an ein Erdbeben erinnert. Seine Kollegen sehen vom Lehrerzimmer aus,  wie die Front des Archivgebäudes auf sie zustürzt. Einige suchen in ihrer Panik Schutz unter den Tischen. Die meisten Schüler sind schon gegangen, aber 200 haben noch Unterricht – bis sie von dem Schulleiter und anderen Lehrkräften, einem Notfallplan folgend, nach hinten auf den Schulhof geschickt werden. 

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Auf der Einsatzleitstelle nimmt ein Feuerwehrmann einen Notruf entgegen, das Gespräch wird aufgezeichnet: „Wir haben einen Notfall, und zwar am Waidmarkt“, ruft ein Bauleiter mit keuchender Stimme in sein Handy. „Wir müssen hier alles räumen, die Gebäude...die Baugrube kommt!“ Im Hintergrund sind Schreie zu hören. „Was ist passiert?“ fragt der Feuerwehrmann. „Die Leute müssen...die Baugrube kommt! Wir haben hier ein Riesenproblem, hier stürzen Gebäude ein.“ „Es stürzen Gebäude ein?“ „Wir müssen hier die Gebäude räumen! Das ist ein Notfall, Lotsenpunkt 2040 am Waidmarkt.“ „Wir kommen da hin.“ „Sofort! Ganz schnell bitte, ganz schnell!“ „Wir kommen da hin.“ Nach 74 Sekunden endet das Gespräch. Kurz darauf der zweite Anruf des Bauleiters, er dauert 16 Sekunden. „Lotsenpunkt 2040, wir brauchen Einsatzkräfte, das Historische Archiv ist eingestürzt!“ Der Feuerwehrmann wiederholt, was er soeben gehört hat: „Das Historische Archiv ist eingestürzt.“

Das Unglück in Zahlen

2 Todesopfer – Der Bäckerlehrling Kevin K. und der Design-Student  Khalil G. wurden von Trümmerteilen erschlagen und erst nach Tagen tot aus dem  Schutt geborgen.    

1,33 Milliarden Euro beträgt nach Schätzung der Kölner Stadtverwaltung der Sachschaden.  

700 Millionen Euro soll die Restaurierung der Archivdokumente kosten.

8 Jahre Bauzeit – Die Sanierung des zerstörten U-Bahn-Bauwerkes soll 2020 beginnen. Die erste Bahn wird wohl nicht vor 2027 fahren.  

94 Beschuldigte – Die Staatsanwalt ermittelte gegen etliche am U-Bahn-Bau beteiligte Personen. Sechs wurden angeklagt, zwei von ihnen in  erster Instanz wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. 

5000 Tonnen Erde – Massen von Erde, Schlamm und  Kies schossen innerhalb von Minuten  durch eine undichte Wand in die Baugrube. So wurde dem angrenzenden Archiv der Boden entzogen.

Die Bewohnerin eines unmittelbar an das Archiv grenzenden Hauses schreckt auf, von draußen ist ein Krachen zu hören. Ihre Katze sei vor Schreck aufs Bett gesprungen, erinnert sich Monika S. Als Erstes habe sie aus dem Fenster auf die U-Bahn-Baustelle vor dem Haus geschaut. „Nichts wie raus“, habe sie ihrem Mann zugerufen. Sie habe ein Knallen gehört, „wie wenn ein Flugzeug abstürzt“. Die Erde habe gebebt. „Ich habe geschrien wie eine Verrückte.“ Ihr Verhalten sei ihr in dem Moment gar nicht bewusst gewesen, man habe es ihr später so geschildert. Über Schutt und Trümmer klettern Monika S. und ihr Mann ins Freie. Sie schaffen es, das Gebäude noch vor der Katastrophe zu verlassen. Ihr Kater Felix wird 35 Tage später von der Feuerwehr unter den Trümmern gefunden, abgemagert, aber unverletzt.

In dem zur anderen Archivseite hin gelegenen Nachbarhaus sitzt der freiberufliche Designer Daniel D. am Schreibtisch, als er ein tiefes Brummen wahrnimmt, dem er zunächst keine besondere Bedeutung beimisst. Das Geräusch wird lauter. Er will im Treppenhaus nachsehen und bemerkt Risse in den Wänden. Sein Instinkt sagt ihm, sich in Sicherheit zu bringen. Die Haustür ist verzogen, sie lässt sich beim ersten Versuch nicht öffnen. Im Hof gibt es keinen Ausgang. Er sieht die riesige Staubwolke über dem Archivgrundstück, warnt noch einen Bewohner im Erdgeschoss und stößt dann mit Gewalt die Haustür auf. Draußen steht eine riesige Staubwolke über dem Archivgrundstück und der U-Bahn-Baustelle.

Der Löschzug, der nur einige Hundert Meter entfernten Feuerwache 1 ist schnell vor Ort. Der Zugführer und seine Leute stehen vor einem riesigen Trümmerberg. Neben der Einsturzstelle fallen noch Steinbrocken von dem schwerbeschädigten Wohnhaus Nummer 232, am Boden schießen Wasser und Dampf aus gerissenen Leitungen. Die Feuerwehrleute sehen eine alte Frau an einem Fenster, sie stürmen trotz der unklaren Situation zu sechst in das Haus und bringen die Frau in Sicherheit. Dabei treten sie alle Wohnungstüren ein, aber sie finden niemanden mehr. Alle anderen Bewohner haben sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Der Zugführer der Löschzuges 1 wundert sich. Er erwartet an solch einem Katastrophenort Schreie von Verletzten. Aber es ist überraschend still wenige Minuten nach dem Einsturz. „Da habe ich bestimmt eine Minute gebraucht, um zu realisieren, dass ich da keinen, nicht einen einzigen Verletzten gesehen habe.“ Dennoch löst der Zugführer den größtmöglichen Alarm aus: MANV – „Massenanfall von Verletzten“, Rettungswagen, schweres Gerät zur Bergung und Suchhunde werden angefordert.

Bis auf Kevin K. und Khalil G. haben sich alle Bewohner der Nachbarhäuser retten können. Zwei Gebäude sind eingestürzt, weitere werden später abgerissen. Vom Haus Nummer 220 steht nur die hintere Hälfte – und hier ereignet sich eine kuriose Szene: Ein Bewohner steht in seiner zerstörten Wohnung in der zweiten Etage und telefoniert. Er hat aus einem Impuls heraus seine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass er unverletzt ist. Wenig später rettet er sich über einen Schutthügel aus dem Haus.

Schüler und Lehrer des Friedrich Wilhelm Gymnasiums leiden lange unter Ungewissheit und Angst: Sind wirklich alle unverletzt der Katastrophe entkommen? Rundrufe werden gestartet, Telefonketten abgerufen. Erst am Abend kommt die letzte Rückmeldung: Alle sind wohlauf. Später am Abend kann die Feuerwehr die Zahl der Vermissten von 16 auf zwei reduzieren. Das Schulgebäude bleibt einstweilen gesperrt; dreieinhalb Jahre lang, bis August 2012 wird in Provisorien unterrichtet.

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