Die kuriose Rechnung der BahnWarum Zugausfälle die Verspätungsstatistik verbessern

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Jeder dritte Fernzug im Kölner Hauptbahnhof war 2019 zu spät.

  • Ein Bonner Informatiker hat 25 Millionen Stopps im Fernverkehr ausgewertet, um die wahren Verspätungen zu enthüllen.
  • In Köln und Bonn fallen die Ergebnisse besonders schlecht aus.
  • Vor allem bei den ICE-Zügen trickst die Bahn kräftig.
  • Hier stellt der Informatiker seine Ergebnisse vor.

Köln – David Kriesel (35) aus Rheinbach ist Informatiker und Bahn-Vielfahrer. Auf geschätzt rund 40 Reisen kommt er pro Jahr. Die meisten beginnen und enden am Bonner Hauptbahnhof. Im Jahr 2018 fiel ihm auf, dass jede zweite Fahrt mit einem Verspätungsalarm auf der Mailbox seines Smartphones begann. Das machte ihn stutzig. Schließlich hatte die Bahn in ihrer Jahresbilanz Ende 2018 behauptet, 74,9 Prozent ihrer Fernzüge seien pünktlich gefahren. Kriesels Erfahrungen sahen anders aus. „Ich habe mich gewundert, dass die Züge ausgerechnet bei mir immer so oft verspätet waren.“

Für die DB ist ein Zug bereits pünktlich, wenn er weniger als sechs Minuten Verspätung hat. „Ich dachte, ich bin wohl dieser eine Typ, der darauf achten muss, nicht vom Blitz getroffen zu werden, während er den Sechser im Lotto abholt“, sagt Kriesel. „Oder dass ich vielleicht einfach nur falsch wohne. Ich wollte das dann genauer wissen.“

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Am 8. Januar 2019 beginnt der Informatiker damit, die Bahn „vorratsdatenzuspeichern“. Bei diesem sogenannten Bahn-Mining besorgt er sich für jeden Tag des Jahres die offiziellen Daten zu 25 Millionen Stopps an den rund 5700 Bahnhöfen im DB-Netz. „Das sind bundesweit alle Stopps im Fernverkehr und im Nahverkehr an den Fernbahnhöfen.“ Kriesel entgeht nichts. Jeder der rund 800 Fernzüge, die täglich im Netz unterwegs sind, wird lückenlos verfolgt, jede noch so kleinste Abweichung vom Fahrplan an jeder Station direkt gespeichert.

Diese gesamten Livedaten veröffentlicht die Bahn nicht, weil sie für den einzelnen Reisenden keine Bedeutung haben. Der interessiert sich in der Regel nur für den Zug, den er nutzen will. „Die Bahn bietet nur die Prozentzahl der pünktlichen Stopps pro Monat an“, sagt Kriesel. „Für das Gesamtnetz, getrennt in Nah- und Fernverkehr. Man kann nicht nach bestimmten Verbindungen filtern, man kann auch nicht nach bestimmten Bahnhöfen gucken, an denen die Performance besonders gut oder schlecht ist.“

Das Sammeln der Live-Daten aller Fernzüge über ein Jahr ist eine technische Herausforderung. Kriesel mietet sich Server im Netz und programmiert sie so, dass sie für jeden Fernbahnhof die Plandaten und die Verspätungen für jeden Zug automatisiert abspeichern. Bei knapp zwei Millionen Abrufen pro Tag landet er am Ende 2019 bei 15 Terabyte.

Diese riesige Datenbank zieht Kriesel auf seinen Rechner. Bei seiner Auswertung hält er sich exakt an die Sechs-Minuten-Pünktlichkeitsdefinition der DB. Ausgewertet wird nur der Fernverkehr – aus rein praktischen Gründen. Hätte er den Nahverkehr in den Fernbahnhöfen einbezogen, wäre er auf fünf Millionen Zugfahrten gekommen. So sind es „nur“ 250.000. Bahn-Bashing liege im fern, sagt Kriesel. „Man muss fair sein. Der Nahverkehr erreicht fast flächendeckend eine Pünktlichkeit von 90 Prozent. Da geht zwar auch mal was schief, aber deutlich weniger als im Fernverkehr. In der Regel bringt die Bahn die Pendler gut zur Arbeit und zurück.“

Ende Dezember stellt der Informatiker die Auswertung beim Chaos Communication Congress in Leipzig vor. Und das sind die Ergebnisse:

In Köln halten die meisten Fernzüge bundesweit

Die meisten Fernzüge halten in Köln (380.000 Stopps), gefolgt von München-Ost, Düsseldorf, München-Pasing, Essen, Hamburg-Dammtor, Duisburg, Nürnberg, Hannover und Frankfurt/ Main. Die Pünktlichkeitsrate in Köln beträgt 66 Prozent, Bonn kommt sogar nur auf 59. Kriesel generiert eine Karte, auf der er die großen Bahnhöfe nach dem Prozentsatz der Pünktlichkeit einfärbt. Knallrot steht dabei für eine Quote von 60, blau für 90 Prozent. „In NRW ist so ziemlich alles rot“, sagt er. Ganz schlimm seien große Bahnhöfe mit vielen Stopps, die jedem Zug noch „ein bisschen mehr Verspätung mit auf den Weg geben“. In Köln, Frankfurt, Hamburg und Mannheim summiert sich das auf mehr als 50.000 Minuten.

ICE sind am pünktlichsten, fallen aber oft aus

Unter den Zugtypen sind die ICE am pünktlichsten, fallen mit über fünf Prozent aber am häufigsten aus. Intercity und Eurocity schneiden bei den Verspätungen schlechter ab, sind dafür zuverlässiger. Ihre Ausfallquoten liegen bei gut drei (IC) und zwei Prozent (EC).

Die meisten Züge fallen am 10. März 2019 aus. Das ist der Tag, an dem Orkan Eberhardt über das Land fegt und fast den gesamten Fernverkehr lahmlegt. Und im Juli, als die Ausfallquote mit acht Prozent „deutlich über der Fehlertoleranz“ liegt. „Die ICE haben ein fettes Problem im Sommer“, sagt Kriesel, räumt aber ein, dass es an dieser Stelle im Datensatz eine Schwachstelle geben könnte. „Ich weiß nicht, wie die Bahn mit Ersatzzügen in ihren Daten umgeht, ob solche Züge im Fahrplan stehen oder nicht. Daher kann es sein, dass mir dazu Informationen fehlen.“ Die Bahn teilt dazu mit, dass sie bei Ausfällen häufig einen Ersatzzug mit anderer Zugnummer stelle. Daher sei es falsch, den ausgefallenen Zug als „unpünktlich“ zu werten.

Ausgefallene Züge erhöhen die Pünktlichkeit

Ausgefallene Züge tauchten in der Verspätungsstatistik der DB nicht auf, weil es schwierig sei, „dafür ein sinnvolles mathematisches Modell zu hinterlegen“, heißt es in einer Stellungnahme des Konzerns weiter. „Das ist schon krass“, sagt Kriesel. Lasse die Bahn einen unpünktlichen Zug einfach ganz ausfallen oder nicht bis zum geplanten Endbahnhof fahren, damit er wenigstens auf dem Rückweg pünktlich ist, verbessere das sogar die Verspätungsbilanz.

Seine Auswertung der Daten des Jahres 2019 hat ergeben, dass vor allem bei den ICE-Zügen die ersten und letzten Stopps einer Linie gekappt werden. Er habe geglaubt, dass die Ausfälle mehr werden, je länger ein Zug fährt. Bei den IC-Zügen sei das auch so. Bei den ICE aber nicht. „Die scheinen mit den ICE einfach hart zu wenden. Bei der Bahn bezeichnet man das intern auch die Scheuer- oder Pofalla-Wende“, so Kriesel – benannt nach dem Bundesverkehrsminister oder dem Infrastrukturvorstand des Konzerns. Der Informatiker hat die Ausfälle in seine Pünktlichkeitsstatistik eingerechnet – und kommt für 2019 nur noch auf 72,5 Prozent gegenüber den 74,9 Prozent der DB. „Für den Fahrgast bedeutet jedes Prozent weniger, dass die Wahrscheinlichkeit größer wird, den Anschlusszug zu verpassen.“

Ab 40 Minuten gibt die Bahn ihre Züge auf

Kriesel hat auch herausgefunden, dass die Pünktlichkeit abnimmt, je länger ein Zug unterwegs ist. Die meisten Verzögerungen treten nach seiner Analyse nach 500 Minuten auf. „Verspätungen bis zu 40 Minuten werden häufig zum Teil noch wettgemacht. Jenseits dieser Marke scheint die Bahn die Züge aufzugeben“, sagt er. Der Informatiker hat rund 500 Fahrkombinationen gefunden, bei denen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent die Verspätung über 20 Minuten liegt. „Da lohnt es sich, ein an den Zug gebundenes Sparticket zu kaufen“, weil das dann zu einem Ticket aufgewertet werde, das für alle Züge gilt.

Er wolle mit seiner Analyse kein Bahn-Bashing betreiben, sondern belegen, wo etwas im Argen liege, sagt Kriesel. Den 5000 Zuhörern in Leipzig gibt er mit auf den Weg: „Seid nett zur Bahn mit ihren Fehlern. Wir haben nur diese eine.“

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