Prozess gegen Lkw-Fahrer in Köln„Kerstin ist nicht umsonst gestorben“

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Mit ihrem Fahrrad geriet Kerstin Hartmann unter den Lkw. Sie war sofort tot.

Mit ihrem Fahrrad geriet Kerstin Hartmann unter den Lkw. Sie war sofort tot.

Am schlimmsten für ihn, sagt er, war der Moment, als er es seiner Mutter beibringen musste. Als Werner Hartmann der 92-Jährigen erklären musste, dass ihre Enkelin Kerstin in Köln bei einem Verkehrsunfall getötet wurde. Zehn Tage zögerte der 69-Jährige das Gespräch hinaus, seine Mutter im Ruhrgebiet erholte sich gerade von einer schweren Operation. Und irgendwann fragte sie enttäuscht, warum Kerstin eigentlich nicht anrufe. Das passe doch gar nicht zu ihr. „Sie wird nicht mehr anrufen“, antwortete Werner Hartmann da. „Sie kann nicht.“

Eine Woche habe seine Mutter gebraucht, um die Nachricht zu begreifen. Ein Jahr ist das jetzt her. Bis heute frage sie immerzu: „Warum Kerstin? Warum nicht ich?“ Sie, die immer gesellig war, habe ihr Haus seitdem nicht mehr verlassen. Im hohen Alter ist ihr Leben völlig aus den Fugen geraten.

Es ist anzunehmen, dass dasselbe so oder ähnlich auch für den Lastwagenfahrer gilt, der die 29-jährige Ärztin am 9. April vorigen Jahres auf der Oskar-Jäger-Straße in Ehrenfeld überfahren hat. Ab dem heutigen Donnerstag muss der Mann sich wegen fahrlässiger Tötung vor dem Amtsgericht verantworten.

Im Prozess wird zu klären sein, warum der 59-Jährige die Radfahrerin beim Rechtsabbiegen auf ein Firmengelände an der Vogelsanger Straße nicht bemerkt hat. Konnte er sie vielleicht gar nicht sehen, weil sie im toten Winkel fuhr? Oder war er schlicht abgelenkt? „Die Anklage geht davon aus, dass er den Unfall hätte vermeiden können, wenn er den Radweg aufmerksamer beobachtet hätte“, sagt Gerichtssprecher Volker Köhler.

In Gedenken an Kerstin Hartmann haben der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) und das Projekt „RadExpressWegKöln“ ein weißes „Geisterrad“ an der Unfallstelle aufgestellt (Oskar-Jäger-Straße 192). Das Rad soll auch als Mahnung an die Verkehrsplaner dienen, „die es bis heute unterlassen haben, die Situation für Radfahrer an dieser Stelle zu verbessern.“ (ts)

Der 9. April 2013 ist ein Dienstag. Kerstin Hartmann, Unfallchirurgin an der Uni-Klinik, hat frei. Am Abend ist sie mit ihrem Freund zum Kochen verabredet. Kurz vor 17 Uhr steigt sie aufs Fahrrad, um noch etwas einzukaufen. Die 29-Jährige fährt die Oskar-Jäger-Straße entlang, als sie ein Lastwagen überholt. An der Einmündung zur Vogelsanger Straße biegt der Lkw nach rechts auf das Betriebsgelände von Thyssen Krupp ab. Kerstin Hartmann will noch ausweichen, fährt einen Bogen. Aber sie hat keine Chance.

Ein Zeuge sagt der Polizei später, sie habe versucht, sich am Lkw abzustützen. Aber der rechte Hinterreifen erfasst die Frau, sie wird unter das Fahrzeug gezogen und ist sofort tot. Als kurz darauf die Notärztin eintrifft, erschrickt sie. Sie kennt Kerstin Hartmann, hat ihr in der Unfallaufnahme der Uni-Klinik häufig Patienten übergeben. Im Kollegenkreis war Kerstin Hartmann äußerst beliebt. „Sie hat immer gelächelt, hatte immer gerne Freunde um sich“, sagt ihr Vater. „Früher, nach der Schule, war unser Haus immer voll mit Kindern.“ Ärztin sei ihr Traumberuf gewesen. Zuletzt wollte sich seine Tochter in die Anästhesie-Abteilung versetzen lassen, um dem Schichtdienst zu entgehen. Mit ihrem Freund plante sie die Hochzeit. Das Paar freute sich auf Kinder.

Stattdessen betrachtet ihr Vater nun furchtbare Bilder im Ermittlungsbericht, quält sich durch polizeitypische Formulierungen wie „Endlagestelle der Person“, wenn es um die exakte Beschreibung der Unfallstelle geht. „Das ist ganz schlimm für mich“, sagt Werner Hartmann und fügt hinzu: „Aber meine Tochter ist nicht umsonst gestorben. Ich will erreichen, dass die Politiker mehr zum Schutz von Fußgängern und Radfahrern tun.“

Eine EU-Richtlinie verlangt seit 2007 zwar bestimmte Spiegel in Lastwagen, um den toten Winkel zu minimieren, aber Werner Hartmann geht das nicht weit genug. Er fordert unter anderem, auch elektronische Assistenz- und Sicherheitssysteme zur Pflicht zu machen, die die Fahrer beim Abbiegen vor Hindernissen warnen – zum Beispiel per Kamera oder Ultraschall. Aber bis es so weit ist, vergehen wohl noch Jahre. Grundsätzlich unterstütze das Bundesverkehrsministerium diese Forderung, betont ein Sprecher auf Anfrage. Aber: Solche Systeme seien derzeit erst in der Entwicklung und hätten „noch nicht den nötigen technischen Reifegrad“ für einen Einsatz in Lastwagen.

Werner Hartmann will weiter kämpfen. „Das bin ich meiner Tochter schuldig.“ Fast 250 Gäste seien zur Beerdigung in Kerstins badischen Heimatort Cleebronn gekommen, darunter viele Mitarbeiter der Kölner Uni-Klinik. Er empfinde tiefen Dank, sagt Hartmann. „Alle haben Kerstin und uns etwas von ihrem kostbarsten Gut geschenkt – Lebenszeit.“

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