Ein Arzt, 2000 PatientenAkuter Kinderärzte-Mangel in Köln – Verband schlägt Alarm

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Vorsorgeuntersuchung bei der kleinen Joanna aus Nigeria. Kinderarzt Taner Uguz arbeitet am Rande der Belastungsgrenze.

Vorsorgeuntersuchung bei der kleinen Joanna aus Nigeria. Kinderarzt Taner Uguz arbeitet am Rande der Belastungsgrenze.

Köln – Das Wartezimmer von Taner Uguz ist bis auf den letzten Platz gefüllt, am Telefon kein Durchkommen. Und mittendrin der Arzt, der von einem der fünf Behandlungszimmer ins andere hetzt. Impfen im Akkord, Elterngespräche und dazwischen Vorsorgeuntersuchungen wie die der kleinen Yoanna. Von morgens acht bis abends sechs Uhr.

Uguz ist Kinderarzt aus Leidenschaft, das spürt man sofort. Als Mediziner, dessen Vater seinerzeit als einer der ersten Gastarbeiter nach Köln gekommen ist, hat er sich bewusst für eine Praxis im weniger privilegierten Stadtteil Mülheim entschieden. Mit einer 60-Stunden-Woche und weit über 2.000 kleinen Patienten arbeitet er am Rande seiner Möglichkeiten. „Jeden Tag muss ich am Telefon 15 Patienten abweisen, einfach weil ich keine Kapazitäten mehr habe.“ Dieser Aufnahmestopp zerreiße ihn innerlich, weil er ihnen doch so gerne helfen würde. Gerne würde er mal sagen: Geht doch zu einem Kollegen. Doch in Mülheim gibt es nur ihn und eine weitere ebenfalls stark frequentierte Kollegin.

Arbeiten über der Belastungsgrenze

Zwei Ärzte für Kölns kinderreichsten Stadtteil: 40.000 Einwohner, 7.100 Kinder. 80 Prozent seiner Patienten sind Migranten, viele davon sprechen kaum deutsch: Medikamenteneinnahme erklären, Krankheiten erläutern – das kostet hier viel Einfühlungsvermögen und Zeit. Uguz ist längst nicht der einzige Kölner Kinderarzt, der ständig über der Belastungsgrenze arbeitet: Detlev Geiß (69) in Köln-Chorweiler ist seit fast zehn Jahren Chorweilers letzter Kinderarzt. Mit immer mehr Patienten: Seit dem Jahr 2000 waren es 20.000 zusätzlich. Auch bei ihm ein hoher Anteil der Patienten mit Migrationshintergrund.

Um die Eltern und Kindern in seinem Stadtteil nicht im Stich zu lassen, arbeitete er immer weiter, weil jahrelang die Suche nach einem Nachfolger vergeblich war. 60-Stunden-Wochen in einem Alter, in dem andere den Ruhestand genießen. Erst jetzt zum Jahreswechsel hat sich nach jahrelanger Suche eine Nachfolgereglung aufgetan, so dass sicher gestellt ist, dass Chorweiler künftig nicht ganz ohne Kinderarzt dasteht.

Zahl der Kinderärzte reicht hinten und vorne nicht

Doch Chorweiler und Mülheim – Stadtteile, in denen sich Ärzte wegen des sehr geringen Anteils an Privatpatienten ohnehin nicht gern niederlassen – sind nur die Spitze des Eisbergs. „Wir stehen vor einem riesigen Problem“, konstatiert Geiß. In einer stark wachsenden Stadt mit einer Geburtenzahl auf Rekordhöhe reiche die Zahl der Kinderärzte hinten und vorne nicht. Unterstützung erhält er vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), der kürzlich Alarm schlug. Am Kinderärzte-Mangel müsse dringend etwas geändert werden, sonst laufe man in zehn Jahren auf eine Tragödie zu, hat Verbandssprecher Josef Kahl kürzlich gefordert.

Engpässe auch im Bergischen Land

Nach Angaben des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte ist neben Köln und Düsseldorf vor allem der ländliche Raum vom Kinderärzte-Engpass betroffen. Auch im Bergischen Land, am Niederrhein, im Sauerland, im Siegerland sowie in Süd- und Ostwestfalen gibt es Engpässe.

Dass der geforderte veränderte Bedarfsplan der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) das Problem nicht automatisch löst, zeigt sich im Kreis Kleve. Dort hat die KV Nordrhein aufgrund der Hilferufe einer Elterninitiative einen „Sonderbedarf“ erkannt. Ein zusätzlicher Arzt dürfte sich dort nun ansiedeln, aber auch nach über einem Jahr Suche findet sich keiner.

Weiteres Problem ist die laut Marburger Bund gesunkene Zahl der Studienplätze für Mediziner in NRW. 1981 waren es 3442 – heute sind es nur noch 2.206. Die neue Landesregierung will neue Studienplätze schaffen. (ari)

Längst ist das Problem auch in anderen Vierteln mit hohen Geburtenraten angekommen: „In Ehrenfeld raten einem die Hebammen schon während der Schwangerschaft, Kinderärzte durchzutelefonieren, damit man für die Vorsorgeuntersuchungen nach der Geburt irgendwo unterkommt“, erzählt Vera Sel, Mutter der kleinen Marie. In ihrem Fall mit mäßigem Erfolg. Bei den antelefonierten Ehrenfelder Kinderärzten wurde sie abgewiesen: Aufnahmestopp. Schließlich ist sie mit ihrer Tochter bei einem Arzt in Braunsfeld untergekommen. Nicht angenehm, mit dem fiebrigen Baby durch die Stadt zu fahren, aber immerhin. In Mülheim hat Kinderarzt Uguz immer die Angst, dass die abgewiesenen Patienten danach gar nicht zum Arzt gehen und akute Erkrankungen verschleppt werden.

Köln erfüllt die gesetzlichen Vorgaben

Es gibt in Köln 86 Kassensitze für Kinderärzte. Sie versorgen in Köln rund 175.000 Versicherte unter 18 Jahren. Formal erfüllt Köln damit die gesetzlichen Vorgaben und sei mit 109 Prozent sogar überversorgt, erläutert Dr. Jürgen Zastrow, Kreisvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV).

Das Problem ist nur, dass die Zahlen der KV für die Kassensitze Anfang der 90er Jahre festgelegt wurden und seither nie mehr dem veränderten Bedarf angepasst wurden. Seither sind nicht nur die Zahl der Kinder gestiegen (allein von 2015 auf 2016 um 5.000), sondern auch die der Aufgaben: „Inzwischen gibt es zwölf Vorsorgeuntersuchungen statt fünf und eine Verdreifachung der Impfungen“, erläutert die Obfrau der Kinder- und Jugendärzte in Köln, Ursula Kleine-Diepenbruck.

Gesetzliche Bedarfsplanung müsse angepasst werden

Hinzu kämen neue aufwändige psychosoziale Krankheiten wie ADHS und Adipositas, zudem Allergien und Asthma. Und gerade in sozial prekären Stadtteilen ein sehr hoher Kommunikationsbedarf, der Zeit koste. Da gehe diese Rechnung einfach nicht auf. Die gesetzliche Bedarfsplanung müsse dringend angepasst werden.

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Zastrow leugnet nicht, dass es ein Problem gibt. Fakt sei, dass die Kinderärzte sehr unterschiedlich nachgefragt werden. Es gebe begehrte und weniger begehrte Praxen. Problematisch sei aber auch die ungleiche Verteilung der Arbeit. Es gebe Kinderärzte, die sich entschieden, pro Monat nur 400 bis 500 Kinder – meist ein hoher Anteil Privatpatienten – zu behandeln, andere behandelten 2.900 Kinder. Um das Problem zu entschärfen, könne man zunächst mit mehr Kollegensolidarität anfangen, so Zastrow.

Dramatische Zuspitzung des Mangels

Genau an diesem Punkt sieht Kinderarzt Geiß in den kommenden Jahren eine dramatische Zuspitzung des Mangels: Bei den im Vergleich zu anderen Fachärzten weniger lukrativ entlohnten Kinderärzten fehlt der Nachwuchs. Und das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass laut dem Landesverband der Kinder- und Jugendärzte in den kommenden Jahren etwa 25 Prozent der Kinder- und Jugendärzte in Rente gehen werden.

„Von den neuen Nachwuchsärzten sind 80 Prozent weiblich. Wenn sie überhaupt eine Praxis übernehmen, dann haben sie andere Lebensentwürfe als wir damals. Statt einer 60-Stunden-Woche suchen sie kalkulierbare Arbeitszeiten, um Familie und Beruf zu vereinbaren.“

Praxen in sozialen Brennpunkten sind schwer zu besetzen

Laut Zastrow kommt erschwerend hinzu, dass Praxen in sozialen Brennpunkten sehr schwer zu besetzen sind: „Wenn Nachwuchskräfte eine Praxis übernehmen und investieren wollten, dann verweigern häufig die Banken Kredite für Praxen, die in Gebieten von vorrangig gesetzlich Versicherten liegen.“ Daher suchten sich junge Ärzte Stadtteile, in denen es viele Privatpatienten gibt.

Taner Uguz würde sehr gerne einen weiteren Facharzt in seiner Praxis beschäftigen, damit er doppelt so viele Patienten behandeln kann. Abgesehen davon, dass ein zweiter Kollege für einen Stadtteil wie Mülheim ohnehin schwer zu finden ist, gibt es weitere hohe Hürden: „Die kassenärztliche Vereinigung erhöht mein Budget nicht, damit ich mir das leisten kann.“ Das Problem sei, dass die Eltern seiner kleinen Patienten keine Lobby hätten. „Hier wehrt sich keiner.“

Eltern auf der anderen Rheinseite hätten längst gegen die katastrophale Lage aufbegehrt, sie würden bei den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung Sturm laufen. Uguz hat in Mülheim nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Aufgabe, das weiß er. „Das hier ist ein Hilferuf“, schiebt er hinterher. „Weil ich nicht weiß, wie lange ich das hier kräftemäßig so noch durchhalte.“

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