30 Jahre MauerfallWarum bei einem Kölner Ehepaar die DDR-Fahne im Garten weht

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Thilo Gehroldts ganzer Stolz: sein erstes eigenes Auto. Das ist nach der Wende allerdings nichts mehr wert.

  • Claudia und Thilo Gehroldt lernten sich nach der Wende kennen – sie kommt aus Köln, er aus Gera.
  • Die Söhne des in Köln lebenden Paares tragen den Beinamen „Ossi-Kinder“ mit Humor und ein bisschen Stolz.
  • Ost-West-Ehen halten statistisch gesehen nicht so lang wie andere. Wie das Ehepaar mit den Herausforderungen ihrer Ost-West-Ehe umgeht und was Thilo Gehroldt aus der DDR auch noch heute nicht missen mag?
  • Ein Besuch in Köln-Roggendorf.

Köln/Gera – Gera ist gar nicht so weit weg von Köln. Vor allem von Spanien aus betrachtet. Das macht Claudia und Thilo Hoffnung. Am letzten Tag im Urlaub hat es gefunkt und es könnte mehr daraus werden. Wieder zu Hause, denkt er noch darüber nach, während sie ihn anruft, sich ins Auto setzt und einfach losfährt.

Die Entfernung ist überwindbar. Dass er ein Ossi ist – erscheint weder hinderlich noch förderlich. Es ist ein Zufall. Eigentlich stellt sich die Frage auch gar nicht. Die kommt erst jetzt auf. 20 Jahre später.

Die Ost-West-Ehe gilt als instabil

Der Mauerfall ist 30 Jahre her. Die Bilanz der Wiedervereinigung fällt im Großen und Ganzen gut aus. Oder schlecht. Je nachdem, wen man fragt. Uneinheitlich jedenfalls und so richtet sich der Blick, wie oft an diesem Jahrestag, auf das Zusammenwachsen im Kleinen. Auf die Ost-West-Ehe, als wäre man auf der mikroskopischen Suche nach einem vorzeigbaren Einheits-Rezept.

Einer der wenigen Forscher, der diese Lebensgemeinschaften untersucht hat, ist Sozialwissenschaftler Daniel Lois. Er hat sich dem Phänomen quantitativ genähert. Seiner Schätzung nach lag der Anteil der Ost-West-Verbindungen vor zehn Jahren bei knapp zwei Prozent, die nicht ehelichen bei elf Prozent. 

Die meisten von ihnen leben in den alten Bundesländern, finden sich überproportional häufig in Berlin – und haben in der Tat einige Besonderheiten zu bieten. Vor allem eine negative, denn Ost-West-Beziehungen sind vergleichsweise instabil und zerbrechen häufiger. Es gibt aber Ausnahmen. An diese, die glücklichen, stellen wir die Frage: Welche Rolle spielt überhaupt noch die Herkunft?

Die Familie fährt im Trabi vor

Thilo und Claudia wohnen inzwischen in Köln, ohne zu wissen, dass sie ein Hauch von Mythos umweht. Ihr Einfamilienhaus steht in Roggendorf. Im Garten flattert die Fahne mit Hammer und Sichel. Der erste Hinweis gegen den Anfangsverdacht, dass heute nach subtilen Anzeichen einer ostdeutschen Sozialisierung zu suchen sei. Ein zweiter scheppert um die Kurve. Allgemeine Heiterkeit. Familie Gehroldt fährt im Trabi vor.

Claudia hebelt sich aus den hinteren Sitzen raus, Thilo und Sohn Tibor entfalten sich beim Aussteigen zu freundlichen Riesen. Sohn Norman gesellt sich dazu. Die drei Männer tragen T-Shirts mit Ampelmännchen. Huch, möchte man meinen. Und: Ist das inszeniert? Ist es nicht. Nicht von der Presse. Nicht von der Familie. Alles echt. Alles wie immer.

Die Familie strahlt entwaffnend. Keine Sorge, sagt Thilo. „Die DDR hat nicht funktioniert, konnte nicht funktionieren, und ich will sie auch nicht zurück. Aber trotzdem ist es der Ort, an dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe.“ Die war sehr glücklich. Fast entschuldigend: „Die Nostalgie ist bei mir anscheinend besonders ausgeprägt.“

Die meisten Abwanderer sind weiblich

Selbst ohne Trabant wäre Thilo eine Rarität. Denn nach der Wende waren es vor allem die jungen, gut ausgebildeten und erwerbsorientierten Frauen, die nach der Wende in den Westen gingen. 55 Prozent der Abwanderer in den ersten 15 Jahren seit 1989 waren weiblich. Auch deswegen stammen in den meisten der wenigen Mischehen, die Lois in seiner Studie beschreibt, die Frauen aus der DDR.

In überraschender Deutlichkeit, so Lois, trennten sich Ost-West-Paare deshalb relativ häufig, weil sie gar nicht erst heiraten wollten und oft mindestens ein Partner bereits geschieden war. Dazu kamen religiöse Differenzen. Faktoren, die eine Partnerschaft zumindest wackeln lassen.

Nichts davon trifft auf Claudia und Thilo zu. Er ist einer der ganz wenigen Ostmänner, die eine Westfrau heirateten und jetzt im Westen wohnen. Ihm selbst ist seine Außergewöhnlichkeit gar nicht aufgefallen. „Ich kenne mehrere von meiner Sorte.“

Es kamen Gehroldt und Gera

Die Wahl auf Köln fiel aus pragmatischen Gründen. „Ich bin Sachbearbeiterin bei einem Versicherer in Köln“, erzählt die 49-Jährige. Drüben hätte sie keinen Job gefunden. Er ist Kundendiensttechniker, schrieb zwei Bewerbungen und erhielt zwei Zusagen.

Mit der Entscheidung für Köln war für Claudia klar, dass sie ihrem Mann entgegenkommen musste. Deshalb nahm sie bei der Hochzeit zwei Dinge an: Seinen Namen und alles, was sein Heimweh kuriert. So traten Gehroldt und Gera in ihr Leben. Seither steht Nudossi auf dem Frühstückstisch, liegen Digedags-Hefte in der Wohnung, parken Trabis in der Garage, hallt „Vati“ durchs Haus, wenn der Jüngste seinen Papa ruft. Nur Thüringer Klöße kocht Claudia nicht, außerdem weigert sie sich, „Leibchen“ zu sagen.

Über soviel Hang zu Folklore muss Steffen Mau verständnisvoll lachen. Der Soziologe und Autor aus Berlin hat sich bereits satirisch über Ost-West-Paare ausgelassen und weiß, wie es ist, wenn der Partner die neue Heimat mit Souvenirs aus der alten ausstattet.

Die Heimatliebe überdauert die Migration

Er, Ostmann aus Berlin, ist mit einer Rheinländerin verheiratet. Ihre Liebe zum Karneval hat die Migration unbeschadet überstanden. Wenn die Kamelle aus dem Kontext fliegen – egal. Manche Menschen beharrten eben mehr als andere auf ihrer biografischen Identität.

„Eigentlich eine Binse, dass diese privaten Beziehungen ein Faktor für soziale Integration sind.“ Menschen öffneten sich dem Partner, seiner Kultur und Tradition. Aus Liebe. Mal ganz nüchtern betrachtet.

Das ist auch der Grund, warum Claudia das gesamte Ostpaket gelassen in Kauf nimmt. „Bis ich Thilo kennenlernte, war ich überhaupt nie im Osten gewesen. Ich hatte nach der Wende kein Bedürfnis. Null. Das sage ich ganz offen.“ Mittlerweile findet sie es befremdlich, dass auch bis heute 20 Prozent der Westdeutschen noch nicht einmal drüben waren.

Zum Urlaub geht es in den Osten

In den ersten Jahren verbrachte sie mit Thilo und den Kindern alle Haupturlaube im Osten. Herrlich, preislich günstig. Im letzten Jahr waren sie mit den Urlaubsorten dort durch. „Da waren wir zum ersten Mal am Bodensee.“

Sich in Westdeutschland zurechtzufinden, war für Thilo nicht schwer. Ziel war nicht, sich anzupassen, sondern nicht übrig zubleiben. Er war 21 als die Mauer fiel. In dem Alter sei ohnehin alles neu, was folgt. Die Lehre in der Tasche, ging er nach München, arbeitete zwischendurch in Ulm.

Köln ist für den heute 51-Jährigen so, wie die Großstädte in Deutschland in seinen Augen eben sind. Offen, multikulturell und bunt. „Köln besteht ja vor allem aus Zugereisten.“ Es ist okay. Wohl fühlt er sich hier vor allem „wegen Claudia“.

Trotzdem schwelt da eine Wunde. Das wissen beide. Weil es eben doch anders ist, als würde ein Hamburger eine Münchnerin heiraten. „Es ist komisch, wenn das eigene Land von heute auf morgen abgewickelt wird.“ Claudia kann sich das nicht vorstellen. „Ich bin aus Köln eigentlich nie rausgekommen.“ Sie kann sich nicht einmal erinnern, wo und wie sie den Mauerfall erlebt hat.

Alle Ostsachen waren wertlos

Und er? Er sei damals nach Westberlin gefahren, um sein Begrüßungsgeld abzuholen. „Ich habe nur ein bisschen ausgegeben, auf jeden Fall für Bananen, das ist klar.“

Nach der Begeisterung, setzte die Ernüchterung ein: „Alles, was uns wichtig war, haben wir verkauft.“ Er hat sich oft gefragt, ob es nicht auch eine andere Lösung hätte geben können. „Alle Ostsachen waren plötzlich nichts mehr wert. Die DDR war weg, vorbei.“

Nichts verschwindet einfach so, sagt Soziologe Lois. Eine DDR-Prägung, die zum Beispiel in Ost-West-Paaren überdauert hat, sei die auffallend egalitäre Arbeitsaufteilung. Erwerbstätige Frauen im Osten waren normal, ihre Arbeitskraft wurde gebraucht. Auch deshalb gab es ein Betreuungsangebot für Kinder, auf das man im Westen heute neidisch blickt. Kurz vor der Wiedervereinigung war die Vollversorgung fast erreicht.

Mit dieser Selbstverständlichkeit wurde auch Claudia konfrontiert. Sie selbst war nie im Kindergarten und wollte auch ihre Söhne nicht abgeben, nicht so früh. Aber Thilo konnte sie überzeugen. „Mittlerweile sind wir beide der Meinung, dass wir es richtig gemacht haben“, sagt Thilo.

Und wie steht es um die innerhäusliche Arbeitsaufteilung?„Da er im Kundendienst ist, weiß er auch, wie die Waschmaschine, Spülmaschine und Kaffeemaschine zu bedienen ist.“ Gleichberechtigung ist aber nichts, was sie vor ihm nicht auch schon gekannt hätte.

Er vermisst die Freunde

Wenn man das Paar nach Charakteristika fragt, fällt Claudia eher ein, was sie von ihm gelernt hat. „Man kann vieles reparieren, kleben oder einfach selber machen.“ Thilo ist Handwerksmeister. Er hatte sich für den Beruf entschieden, weil er jemand sein wollte, „den andere Menschen brauchen“.

Man konnte damals nicht einfach alles kaufen. „Deshalb war es wichtig, gute Beziehungen zu haben.“ Je größer der Bekanntenkreis, desto besser. „Meine Frau kann sich über diesen Pragmatismus manchmal aufregen.“ Sie nickt.

Was er vor allem vermisst, sind seine Freunde. Einige waren immerhin zu seinem 50. Geburtstag in Köln. „Das fand ich schon toll.“

Sie: „Aber es ist eher eine einseitige Sache. Der Weg nach Gera scheint kürzer zu sein als von Gera nach Köln.“ Er: „Sie sind aber schon mal gekommen.“ Sie: „Schatz. Zum Geburtstag und zur Hochzeit.“ Er: „Ja. Es hat sich die Spreu vom Weizen getrennt.“ Sie: „Wir sind auch mal zur Walpurgisnacht in den Harz gefahren. Aber bislang ist noch keiner nach Köln gekommen, um Karneval zu feiern.“

Der Weggang erntet Unverständnis

Ist ihm der Weggang vielleicht übelgenommen worden? „Nein. Meine Mutter hat sich beschwert. Der Rest hat nur Unverständnis geäußert.“ Sie kannten ja seine Heimatverbundenheit. Gera ist allerdings nicht mehr dieselbe Stadt, die er verließ. Ihre Entwicklung ist geradezu exemplarisch für viele Städte in den neuen Bundesländern.

Gera schrumpft. Erst durch die Abwanderung, jetzt, weil zu wenige Kinder nachkommen. Im Stadtrat ist die AFD heute stärkste Kraft. „Elektronische Bauteile, Textilwirtschaft und Bergbau. Alles am Ende“, fasst Thilo zusammen. Das alles erschwert die Wundheilung. „Ich hatte es anfangs irgendwie als meine Aufgabe gesehen, die Stadt am Leben zu erhalten.“

Seine Tätigkeit habe er dann doch nicht als so wichtig erachtet. „Ich möchte mich manchmal rechtfertigen, indem ich sage, dass ich wegen meiner Frau hier bin. Wegen nichts anderem. Die Liebe war einfach stärker.“

Die Differenzen nehmen ab

Es ist davon auszugehen, sagt Lois, dass sich die Besonderheiten in den Ost-West-Ehen bei den jüngeren Paaren abschwächen. Vielleicht, so schreibt er, sind diese ersten Paare auch einfach ihrer Zeit vorausgewesen, weil sie repräsentieren, was heute im gesellschaftlichen Trend liegt.

Heirat und Konfessionszugehörigkeit haben an Bedeutung verloren. Die Anstrengungen bei beruflicher Gleichberechtigung zugenommen. Der Mythos der Ost-West-Ehe verblasst auch, weil sich die Konstellation mit der Zeit schlicht ausschleicht. Neues kommt nach.

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Ein Ossi ist nicht mehr nur derjenige, der in der DDR geboren wurde. Oder der von den Erzählungen der Eltern geprägt ist. „Diese Echo-Effekte der Nachwende sind schwächer geworden“, sagt Soziologe Steffen Mau. Junge Ostdeutsche entwickeln eine eigene Identität, die sich nicht aus dem andauernden Vergleich mit den Westdeutschen speist.

Das ist zumindest ein Wunsch, den er und viele andere äußern. Zu spüren ist davon noch wenig. Vor allem die sozioökonomischen Unterschiede verfestigen bei knapp der Hälfte aller Ostdeutschen eher ein Selbstverständnis, das auf dem Gefühl fußt, abgehängt zu sein.

Etwas Drittes kommt

Die Gehroldts sind am Ende nur ein Beispiel dafür, dass es viele Realitäten gibt. Ihre Familie bringt allmählich etwas unspezifisch Drittes hervor. Claudia und Thilo haben heute mehr gemeinsame Freunde in Köln. Das haben sie auch den Kindern zu verdanken. Die Teenager nehmen jedem Ost-West-Gerede die Schwere, weil sie keine Unterschiede feststellen.

Funktionierende Vorzeige-Orte gibt es überall, genau wie der „Arsch der Welt“ hier und da sein kann, wie ihr Vater sagt. Den Ruf als „Ossi-Kinder“ tragen sie mit Humor und sogar ein bisschen Stolz. Ansonsten finden sie „einfach toll, was Vati toll findet“ und meinen damit seine Leidenschaft für die Auto-Schrauberei.

„Wir machen da mit“, sagt der 16 Jahre alte Tibor. Für die Jungs ist der Trabi ein Bastel-Zubehör, für Claudia eine preiswerte Möglichkeit, einen Zweitwagen zu fahren. Für Thilo Andenken und Hobby zugleich. DDR, das sind die Buchstaben, die auf einem Zeitvertreib kleben. Was die Jungs über die Einheit denken? „Ich habe frei. Das ist gut“, sagt Tibor.

Es war die richtige Entscheidung

Und dann gibt es da dieses Ritual: Alle fünf Jahre fragt Claudia ihren Mann, ob alles in Ordnung sei. Aus schlechtem Gewissen, ihn aus der Heimat gerissen zu haben. „Es war die richtige Frau, deshalb war es die richtige Entscheidung“, sagt er dann.

Es steht nicht zur Debatte, nach der Rente zurückzukehren, aber eine Zeitreise in die 80er, die wünscht er sich manchmal. „Wir haben gleiche Erinnerungen an die Musik, weil wir gleich alt sind“, erzählt sie. „Wir sind gar nicht so unterschiedlich.“ Radfahren, die Liebe zur Natur, das Einfamilienhaus. „Ganz banale Dinge verbinden uns.“

Ohne Wiedervereinigung, hätten sich ihre Wege nicht gekreuzt. Zufall, sagt sie. Wie so vieles im Leben. „Er war nur in Spanien, weil die andere Reise ausgebucht war.“ Dafür jedes Jahr dankbar sein? Die Einheit feiern? Nein. Beide schütteln den Kopf. „Aber interessanter Gedanke“, findet sie.  

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