Ende des „Bulimielernens“?Ein Kölner Schulleiter kämpft für eine neue Prüfungskultur

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Abiturprüfung Symbolbild

Schülerinnen und Schüler bei einer Abiturklausur

Köln – Es gab da diesen Moment in der Pandemie, da wusste Oliver Schmitz, dass sich in der Prüfungskultur an den Schulen etwas ändern muss. Als nach dem ersten Lockdown die Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule kamen, sah der Leiter des Kalker Kaiserin-Theophanu-Gymnasiums bei der Leistungskurs-Klausur seines Kurses ein Bild vor sich, das ihm die Augen geöffnet hat.

„Da saßen die Schüler aus meinem Kurs einzeln an Tischen in 1,50 Metern Abstand und schrieben fünf Stunden Klausur mit FFP2-Maske vor dem Gesicht. Alle hatten mundgerecht geschnittene Apfelstücke oder Schokolade dabei, die sie von hinten durch die Maske schieben konnten. Da habe ich gedacht: Wie pervers ist das denn?“ Es kam ihm schräg vor, dass niemand auf die Idee gekommen ist, dass es ja ganz andere Formen geben könnte, Wissen abzuprüfen.

„Alle reden von digitaler Transformation und in unseren Schulen sitzt ein einzelner Schüler am Tisch und schreibt mit einem analogen Schreibgerät auf Papier, was er vorher auswendig gelernt hat.“ Egal wie digital vorher der Unterricht war. Seit Jahrzehnten gehe das unverändert so und der Prüfungsanteil, der über Reproduktion hinausgehe, sei begrenzt. „Das soll die Kultur der Digitalität sein?“, fragt er.

Schub durch die Pandemie

Der Lehrer für Deutsch, Philosophie und Religion wollte das nicht mehr als gegeben hinnehmen. Was, wenn nicht die Pandemie mit all ihren digitalen Experimenten sollte da für einen Schub sorgen, fragte er sich und gründete mitten im Lockdown im Dezember gemeinsam mit anderen Mitstreitern das „Institut für zeitgemäße Prüfungskultur“. Ziel ist, sich darüber auszutauschen, was eine sinnvolle, neue Lernkultur sein könnte und wie sich Leistung anders messen lässt.

Neben Linksammlungen, Videos, Podcasts und Debatten zum Thema werden auch von Lehrkräften ausprobierte Praxisbeispiele für alternative Prüfungsformate digitaler wie analoger Art zusammenzutragen. Derzeit laufen Prüfungen meist nach dem landläufig als „Bulimielernen“ beschriebenen Modus: Die Schüler lernen den Stoff – meist unter Hochdruck kurzfristig vor dem Abfragetermin. Gescheitert ist, wer am Ende nicht auf den Punkt das Gelernte ausspuckt. Diese Art der Prüfung stellt Schmitz grundsätzlich in Frage.

„Teamarbeit wird kaum bewertet“

Laut OECD sollen die Schüler folgende Schlüsselkompetenzen erlernen, um fit zu sein im 21. Jahrhundert: kritisches Denken, Kreativität, Kollaboration und Kommunikation. „Bis jetzt testen wir in Prüfungen allenfalls das kritische Denken. Austausch ist in der Prüfung ein Täuschungsversuch. Teamarbeit wird kaum bewertet.“ Erst recht nicht im Rahmen einer Prüfung.

Die harte Währung sind schriftliche Einzelleistungen. „Das merken auch die Schüler. Das sei die Kultur des Systems und wie geprüft wird, so werde auch gelernt. „Wir können uns die schönsten Dinge für den Lernprozess ausdenken. Lernende werden immer danach fragen, welche Prüfungen am Ende auf sie warten.“

Beispiele aus der Praxis

Schmitz dagegen will lernförderliche Prüfungen, durch die die Schüler etwas mitnehmen und testet andere Prüfungsformate. Wenn etwa auf dem Deutsch-Lehrplan „Erörterung“ steht, müssen die Schüler normalerweise in der Klausur ein ihnen unbekanntes Thema von verschiedenen Seiten betrachten und argumentieren. Das führe dann dazu, dass sich die Schüler die Argumente bei der Erörterung aus den Fingern saugen müssten oder teilweise abstruserweise sogar Expertenmeinungen erfänden. „Kein Journalist würde so zu einem Inhalt arbeiten, ohne vorher zu recherchieren.“

Schmidts Schüler bekommen das Thema dagegen vorher: Sie sollen vorher intensiv dazu digital recherchieren, um dann fundiert argumentieren zu können. Mit dem alternativen Format lernten die Schüler sowohl das gründliche Recherchieren als auch das Argumentieren. Auch das Konzept „Master or Die“ nutzt er in Philosophiekursen etwa bei einer Textanalyse von Sartre: Das bedeutet, dass sich der Schüler oder die Schülerin für die Analyse vorher ein anspornendes, aber realistisches Notenziel setzt – etwa eine 2-. Erreicht die Schülerin dieses Ziel oder ein besseres, bekommt sie die entsprechende Note. Erreicht sie es nicht, wird die Leistung mit ungenügend bewertet. Daher der Name Master-or-Die: Meistere die Aufgabe oder dir geht es an den Kragen!

Welche Fehler machen wir beim Lernen? Die Lehr-Lernforscherin Ines Langemeyer war zu Gast im Schul-Check-Podcast und ordnet Lernmythen ein:

Kern des Verfahrens ist aber, dass die Schülerin zu ihrer Analyse des Textes so oft wie sie mag über die digitalen Kanäle ein Feedback vom Lehrer einfordern kann. Das individuelle Feedback kann dann helfen, den Text beim Überarbeiten weiter zu verbessern. Die Einbettung des Textes in den philosophischen Kontext und die Stellungnahme bleiben dann als Teil der Präsenzklausur vorbehalten.

Andere Kollegen von Schmidt haben auf der Homepage weitere Beispiele zusammengetragen: Da ist der 13. Jahrgang eines Berufskollegs, der statt der klassischen Klausur in vier Schulstunden in kleinen Teams ein Kommunikationskonzept für einen Unverpacktladen erstellen soll.

Alle Medien in Klausuren zugelassen

Da gibt es Lehrkräfte, die in sogenannten Open-Media-Klausuren alle Medien zulassen und so Transferwissen abfragen. Oder das Prüfungs-Projekt einer Klasse 6 zum Thema Bruchrechnen: Die Schüler mussten selbst eine Klassenarbeit mit Lösungen zu erstellen – also quasi eine Do-it-yourself-Klassenarbeit. Durch das selber Produzieren werde das Wissen ganz anders verinnerlicht, berichtet die Lehrerin auf der Plattform.

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Schmitz hofft, dass von dem neu gegründeten Institut eine Art Graswurzelbewegung entsteht, die sich einfach auf den Weg macht, damit „Prüfungen sinnstiftend und zeitgemäß werden und wir dabei auch Mittel des Digitalen ausschöpfen.“

www.pruefungskultur.de

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