Wie endet die Pandemie?„Es werden in Deutschland wohl keine 100.000 Todesfälle“

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Das Virus bleibt, die Pandemie ist vorbei: Wann ist dieser Punkt erreicht?

  • Prof. Oliver Cornely ist Infektiologe an der Uniklinik Köln und leitet das europäische Impfstoff-Netzwerk „Vaccelerate“.
  • Das Ziel des Netzwerks: Die Impfstoff-Entwicklung in Europa verbessern.
  • Im Interview spricht Cornely über das Ende der Pandemie, Impfungen bei Kleinkindern, fehlenden Impfstoff für Studien und den Druck auf die Ständige Impfkommission.

Herr Prof. Cornely, was muss passieren, damit die Pandemie vorbei ist?

Die Weltbevölkerung muss geimpft sein. Das ist natürlich erstmal kein einfaches Ziel. Bei den Pocken ist das gelungen, deswegen werden sie immer als Beispiel genommen. Ich glaube nicht, dass SARS-CoV-2 irgendwann ganz verschwinden wird. Aber die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist die Impfungen möglichst weit voranzutreiben. Also erst diejenigen zu impfen, bei denen wir bereits wissen, dass die Impfung sicher ist. Und dann parallel dazu Studien zu machen, um möglichst auch die Bevölkerungsgruppen einzubeziehen, die bisher noch nicht geimpft werden können. Beispielsweise kleine Kinder. Die über Zwölfjährigen sind ja bekanntermaßen grundsätzlich impfbar. Nun muss die Bevölkerungsgruppe zwischen Null und elf Jahren untersucht werden. Und dann haben wir ganz verschiedene Gruppen, die weiter vulnerabel sein werden, weil wir für sie noch keinen richtigen Impfschutz haben. Etwa jeder, der einen Immundefekt hat, sei es angeboren oder durch Medikamente. Und auch jeder Tumor-Patient kann ein spezielles Risiko haben. Hier müssen Studien durchgeführt werden, um die Sicherheit gewährleisten zu können und auch, um die richtige Dosis zu kennen. Ein kleines Kind braucht sicherlich nicht dieselbe Dosis wie ein 100-Kilo-Mann.

Sie sagen, das Virus werde nicht verschwinden – auch nicht, wenn alle die Möglichkeit haben, sich impfen zu lassen?

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Das Virus wird es immer geben, aber das ist nicht entscheidend. Es wird bestehen bleiben wie viele andere Viren, die aber weniger tödlich sind – weswegen wir kaum über sie sprechen. Kleinere Ausbrüche wird es immer wieder geben, auch in Deutschland. Es geht darum, einen möglichst hohen Schutz herzustellen. Ich wäre erst bei einer sehr hohen Impfquote von mehr als 85 Prozent zufrieden. Wer die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen, sollte das unbedingt tun – auch, wenn das individuelle Risiko für schwere Covid-Verläufe minimal ist. Jeder Einzelne muss begreifen, dass er eine Verantwortung trägt, sich impfen zu lassen. Schwarz und weiß gibt es bei Pandemien nicht. Unser Ziel ist eine möglichst dunkle Graustufe in der Impfrate, wir müssen das Virus zurückdrängen, wo es nur geht.

Und das funktioniert am besten global, richtig?

So ist es. Wir haben hier eine große Chance. Die reichen Industrieländer können die Produktion vorantreiben, indem sie sehr viel Impfstoff einkaufen und die Präparate weiterverteilen, die EU macht das glücklicherweise. Natürlich auch, weil wir abhängig sind von Exporten – und eine hohe globale Impfquote wirtschaftlich hilft. Es geht zudem darum, die weltweite Infrastruktur für Impfungen aktiv zu verbessern. Das wird auch für die nächste Pandemie entscheidend sein, die mit Sicherheit kommt.

Drei Viertel der Impfstoffe wurden bis Anfang Juni an die zehn reichsten Länder der Welt verteilt. Die WHO beschrieb diesen Umstand als „skandalöse Ungerechtigkeit“, die verhindert hat, dass mehr Leben gerettet werden. Stimmen Sie zu?

Die Pandemie macht in allen Lebensbereichen deutlich, was gut funktioniert und was nicht. Vom Privaten bis ins Geopolitische. Probleme werden also sichtbar – wir sollten den Anspruch haben, sie spätestens dann anzugehen. Es wäre wünschenswert gewesen, global zunächst etwa allen über 80-Jährigen und allen Mitarbeitenden im Gesundheitssystem ein Impfangebot zu schaffen. Ob damit mehr Leben gerettet worden wären, vermag ich nicht einzuschätzen, auch wenn es gut möglich ist. Ich halte es auf der anderen Seite aber auch für wichtig, dass verfügbare Dosen möglichst schnell „in die Arme“ gelangen. Sobald man überlegt, welcher Arm der richtige ist, kommt es zu Verzögerungen. Die globalen Ungerechtigkeiten sind nicht erst durch die Pandemie entstanden, sie waren auch zuvor da. Es ist außerordentlich schwierig, Gesundheitswesen global zu organisieren. Für viele Länder hat dieses Thema schlicht keine Priorität. Auch das muss sich ändern.

Zur Person

Prof. Oliver Cornely ist Infektiologe an der Uniklinik Köln und leitet das europäische Impfstoff-Netzwerk „Vaccelerate“, das Pandemien in Zukunft steuerbar machen soll und von der EU für drei Jahre mit insgesamt zwölf Millionen Euro gefördert wird. Der Projekttitel setzt sich zusammen aus „Vaccine“ und „accelerate“, auf Deutsch: Vakzin und beschleunigen. Denn das Ziel des Netzwerks: Die Impfstoff-Entwicklung in Europa verbessern. Geforscht wird an weit über 400 Kliniken in 37 Ländern – wobei sich diese mittlerweile nicht mehr nur in Europa, sondern unter anderem auch in Kairo, Israel und dem Libanon befinden. (kle)

Welche Maßnahmen können konkret helfen, damit Impfstoffe bei der nächsten Pandemie schneller global verfügbar sind?

Sinnvoll wäre es, in Zukunft Kapazitäten für die Impfstoffproduktion freizuhalten. Und zwar solche, die erstmal einfach ungenutzt vorhanden sind. Das ist sicher teuer. Und es steht der Absatzlogik der pharmazeutischen Unternehmen entgegen, es würde Stimmen geben, die sagen: Das ist absurd. Deswegen müsste so etwas aktiv politisch gesteuert werden. Damit man effektiv vorsorgt und die nächste Pandemie schneller bekämpft. Prävention muss überhaupt eine höhere Priorität bekommen.

In der jetzigen Situation sind viele Länder abhängig davon, dass Industrienationen wie Deutschland Impfstoff abgeben. Das passiert nun seit einigen Wochen – weil der Bedarf hierzulande praktisch gedeckt ist. Hätten wir früher Impfstoff abgeben müssen?

Die Bundesregierung hat als Institution die allererste Aufgabe, der eigenen Bevölkerung gerecht zu werden. Das funktioniert gut, auch wenn wir 90.000 Todesfälle zu beklagen haben. Es werden wohl keine 100.000 mehr werden und das ist ein großer Erfolg, so traurig jeder einzelne Fall auch ist. Die Pflichten, anderen zu helfen, kommen sekundär hinzu. Es ist also tatsächlich eine Frage des Zeitpunkts. Natürlich ist es richtig, dass jetzt Impfstoff abgegeben wird, noch bevor hier keine Impfungen mehr stattfinden – im Vertrauen darauf, dass die benötigten Dosen geliefert werden. Ob man die Abgabe früher hätte riskieren können, weiß ich nicht. Diese Abwägung ist nicht ganz einfach.

Monatelang war die nationale Impfquote wesentliche Grundlage für die Bewertung der Pandemiepolitik. Inzwischen wissen wir, dass Impfungen allein in Deutschland nicht reichen werden. Und dass der kritische Faktor ohnehin die Impfbereitschaft ist. Befassen wir uns zu kurzsichtig mit der Pandemie?

Mich hat die Debatte über unsere aktuelle Impfquote im Vergleich zu anderen Ländern nie ernsthaft gestört. Es darf und muss ja diskutiert werden. Aber natürlich ist die dahinterstehende Frage nicht die wirklich entscheidende. Deutlich irritierender finde ich die Forderung, man müsse die Impfzentren schnellstmöglich schließen und alles den Arztpraxen überlassen. Das ist wirklich kurzsichtig. Es geht weiterhin vor allem darum, eine möglichst hohe Impfquote zu erreichen – und die Impfzentren leisten hier einen Beitrag, der hilft. Solange das so ist, sollten wir sie offenhalten. Die anberaumte Schließung im September sehe ich sehr kritisch. Wir wissen nicht, wann wir eine Auffrischung durch eine dritte Impfung brauchen, der Aufwand dafür ist riesig. Denn parallel werden sich andere zweitimpfen lassen. Das können die Praxen nicht alles auffangen. Hier braucht es mehr Weitsicht.

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Wie werden wir denn herausfinden, ob und wann es Drittimpfungen braucht?

Die Zulassungsstudien der Hersteller beinhalten teilweise schon Drittimpfungen für die Probanden. Hier erhoffe ich mir bald neue Erkenntnisse. Wissenschaftlich ist das nicht ganz unkompliziert – weil immer noch nicht klar ist, welche Blutwerte langfristig wirklich entscheidend sind, um die Immunität präzise zu bewerten.

Und das lässt sich nicht beschleunigen? Die Daten werden ja dringend benötigt.

Nein. Ich finde einige politische Forderungen absurd, die mit Zulassungen und Empfehlungen zu tun haben. Die europäische Arzneimittelagentur müsse sich beeilen bei der Zulassung von Sputnik, das wäre so eine. Der Zulassung des einzigen Impfstoffes also, von dem kein Studienprotokoll öffentlich vorliegt. Oder: Die Stiko (Ständige Impfkommission, Anm. d. Red.) müsse sich bei Empfehlungen beeilen. Verschiedene Akteure versuchen, die Stiko zu treiben, die lässt das aber nicht zu. Man kann nur froh sein über diese Institutionen, darunter auch das Paul-Ehrlich-Institut, die dem politischen Druck standhalten und den Dingen wissenschaftlich auf den Grund gehen. Nur, weil Pandemie ist, kann man ja nicht alles über Bord werfen, was über Jahrzehnte klug entwickelt wurde und für die notwendige Sicherheit sorgt. Es gibt fundierte und sehr wertvolle klinische Standards, die vor allem von Europa, den USA und Japan gesetzt wurden. Man kann an denen nicht knabbern, weil es tagespolitisch nicht gefällt oder weil Wahlen anstehen. Wenn man einfach Medikamenten vertraut, die diesen Standards nicht entsprechen – es gibt Länder, die das tun – riskiert man viel, gesundheitlich und im Vertrauen in unsere Demokratie.

Sie haben selbst in den vergangenen Monaten ein europäisches Impfstoff-Netzwerk aufgebaut. Werden Sie hier die selben Standards künftig schneller erfüllen?

Das ist zumindest unser Ziel. Bislang sind wir in 37 Ländern und weit über 400 Kliniken vernetzt. Die Europäische Kommission hat uns die Möglichkeit gegeben, das Netzwerk zu gründen, doch wir haben auch Zentren in Kairo, Israel, Libanon und etliche in der Türkei. Mir ist es sehr wichtig, über die Grenzen der EU hinaus gehen zu können. In all den Ländern gibt es also Forschungszentren, die bereit sind, an Studien teilzunehmen. Und wir versuchen, überall unkompliziert Probanden zu vermitteln. Denn zwei Dinge nehmen im Prozess einer Studie sehr viel Zeit ein: Die Suche nach Kliniken und die Suche nach Probanden. Beides fällt künftig weitgehend weg. Das spart viel Zeit.

Womit befassen sich Ihre Studienzentren aktuell?

Die Prioritäten verändern sich natürlich ständig, wir machen dazu unter den Forschenden laufend Umfragen. Aktuell haben wir zwei Schwerpunkte: Drittimpfungen und Impfungen bei Kindern. Hier wollen wir möglichst viel in kurzer Zeit herausfinden. Von Köln aus wollen wir etwa bei über 75-Jährigen klären, wie schnell die Immunität abnimmt. Dass dieser Effekt bei der besonders gefährdeten älteren Gruppe schnell eintreten kann, zeigen schon die Todesfälle in Köln, bei denen Menschen trotz vollständiger Impfung am Virus starben. In einer weiteren Studie klären wir in allen Altersgruppen, wie gut Drittimpfungen wann wirken. Die Probanden bekommen die dritte Dosis entweder sechs, neun, zwölf oder 18 Monate nach der vollständigen Impfung und wir untersuchen, wie sich die Immunität in welcher Gruppe entwickelt. Die dritte große Studie geht der Frage nach, welche Impfstoff-Dosierung bei Kindern notwendig und sinnvoll ist. All diese Daten werden dringend gebraucht und jetzt international erfasst. Unser Anspruch ist es, sie professionell und schnell zur Verfügung zu stellen.

Was war bisher Ihr Fokus?

Ein großes Thema waren in den vergangenen Wochen die Kreuzimpfungen. Die Empfehlung der Stiko für eine mRNA-Impfung nach Astrazeneca wurde auf der Basis von Labordaten ausgesprochen. Bei 200 Kölner Geimpften konnten wir dann schnell und sicher bestätigen, dass die Kombination aus Astrazeneca gefolgt von Biontech eine noch höhere Antikörper-Immunisierung bringt als etwa eine doppelte Biontech-Impfung.

Das ist beeindruckend schnell. Gingen denn auch schon Dinge schief?

Selbstverständlich. Wir haben derzeit etwa ein triviales, aber riesengroßes Problem: Uns fehlt der Impfstoff. Wir können die notwendigen Dosen für unsere Studien nicht einfach einkaufen. Unser Fokus liegt auf den Impfstoffen von Biontech und Pfizer und von Moderna. Hier erhoffen wir uns eine fortwährende Kooperation. Das Unternehmen Pfizer tut sich da leider sehr schwer und unterstützt uns bisher nicht. Ich hoffe, dass wir das Beschaffungsproblem mithilfe der Europäischen Kommission lösen können. Viele Dosen benötigen wir ja nicht. Wir haben auch viel mit Curevac gearbeitet, da weiß man aber noch nicht, wie es weiter geht. Es gibt also auch Rückschläge. Wir hoffen aber, hier den Grundstein für eine bessere Pandemiebekämpfung zu legen, auch für künftige Viren.

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