Gastbeitrag von Henriette Reker„Radikalität im Netz ist erster Schritt vor Gewalt“

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Reker September 2019

Kölns OB Henriette Reker

  • In ihrem Gastbeitrag nimmt Henriette Recker Stellung zu den nächtlichen Krawallen in Stuttgart vor ein paar Wochen.
  • Köln Oberbürgermeisterin will die Politik vor Ort zugänglicher machen, um eine empfundene Entfremdung zwischen Bürger und Staat zu überwinden.
  • Sie appelliert an das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, aber auch an die Unternehmer.

Köln – Die nächtlichen Ausschreitungen vor einigen Wochen in Stuttgart waren erschreckend. Sie sind nach meiner Auffassung nicht als ein bloß lokales Ereignis anzusehen. Menschen, die Scheiben einschlagen und plündern; Menschen, die die Polizei angreifen - das ist, so fürchte ich, die Spitze eines Eisbergs der Entfremdung zwischen Bürgern und Staat. Es ist die völlige Respektlosigkeit vor den Grundregeln unseres Zusammenlebens.

Dass das so weit kommen konnte, hat sicherlich nicht allein seine Ursache im Corona Shutdown. Wenn jemand die Erfahrung macht, dass Delikte straflos bleiben, dann ist diese Erfahrung prägend. Sie ist prägend für denjenigen, der ohne Folgen ein Fahrrad stiehlt, aber auch für denjenigen, dem das Fahrrad gestohlen wird. Ein respektierter Rechtsstaat braucht beides: gute Rechtsetzung, aber auch konsequente Durchsetzung des Rechts. Ja, wir brauchen den sanktionierenden Rechtsstaat. Aber unser Zusammenleben besteht aus mehr als der Summe der geltenden Gesetze.

Es braucht den Respekt von Menschen vor Menschen. Eine Gesellschaft braucht die Bereitschaft, Verantwortung für sich und für andere übernehmen. Eine Stadt oder ein Staat können nicht für alles verantwortlich sein. Der Müll auf unseren Straßen kommt nicht von alleine dorthin.

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Keimzelle der Demokratie

Die empfundene Entfremdung werden wir nur überwinden, wenn die Bürger und der Staat wieder enger zusammenrücken. Und der Ort, wo das am besten stattfinden kann, das ist die Kommune. Das ist die Gemeinde, der Landkreis, die Großstadt. Ich glaube an die Kraft der Kommune. Sie ist die Keimzelle der Demokratie.

Aber das heißt umgekehrt auch: Schwache Kommunen führen zu einer schwachen Demokratie. Deswegen war es auch nicht nur eine wirtschaftliche Frage, dass die Bundesregierung ein Unterstützungspaket für die Kommunen geschnürt hat. Wie stark eine Kommune ist, hängt aber nicht allein von ihren Steuereinnahmen ab.

Gerade in Zeiten wie diesen mit dramatischen Einbrüchen bei den kommunalen Einnahmen brauchen wir auch und mehr denn je das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Sie leben die Werte des Zusammenhalts. Dafür müssen wir ebenso dankbar sein wie für das Engagement von Unternehmen, die – auch in Köln – viel zum kulturellen oder sportlichen Leben beitragen. Deswegen mein Appell an Unternehmen und Betriebe auch in schwierigen Zeiten: Bleiben Sie Partner Ihrer Kommune, damit wir gemeinsam aus der Krise gehen!

Nah dran an den Bürgerinnen und Bürgern

Wenn wir über die Zuständigkeiten Europas reden, sprechen wir oft von der Subsidiarität: Europa soll nur regeln dürfen, was die einzelnen Staaten nicht regeln können. Dann gibt es dasselbe Muster aber auch innerhalb der Staaten: Nur was die unterste Ebene des Staates nicht regeln kann, das soll die nächst höhere Ebene regeln dürfen. Ganz unten, das sei die Kommune, dann kommt das Bundesland und oben stehe der Bund. In dieser Ansicht ist meines Erachtens ein Denkfehler enthalten. Ich meine, wir brauchen ein Denken, das die Kommune als den wichtigsten Ort im Verhältnis von Bürger und Staat anerkennt.

Die Kommune ist nicht die unterste Ebene des Staates. Sie ist die nächste Ebene – der Ort, an dem der Staat ganz nah dran ist an den Bürgerinnen und Bürgern.

Natürlich wird man auch in der Kommunalpolitik feststellen, dass es unterschiedliche Meinung über ein Thema gibt, vielleicht schon im ersten Gespräch. Das soll aber sogar schon innerhalb von Familien und Partnerschaften vorkommen.

Politik ist immer ein Interessenausgleich unterschiedlicher Ansichten im Wettbewerb um den besten Weg. Und am Ende ist es vielleicht auch ein gutes Gefühl, so habe ich es erlebt, dass im gefundenen Kompromiss auch die eigene Ansicht enthalten ist.

Viele von uns halten sich in kommunikativen Räumen auf, in denen Respekt und Toleranz vor anderen nicht mehr gelten. Da sind Herabsetzung, Beleidigung oftmals sogar Hass anzutreffen. Ich möchte hier keine pauschale Schuldzuweisung an Facebook und Co. vornehmen. Aber bei der Entfremdung von unserem Gemeinwesen gibt es Gruppen, die auf den sozialen Plattformen erleben, dass nur die eigene Meinung zählt, dass die andere Meinung niedergemacht wird, ja dass oft eskaliert wird bis hin zur Radikalität und Hass.

Radikalität im Netz ist oftmals der Schritt vor der Gewalttat. Das musste ich selbst erleben. Jeder von uns muss aufgerufen sein, sich zum Schutz unseres Gemeinwesens der Radikalität und Intoleranz zu widersetzen, auch im Netz.

Kommunalpolitik zugänglicher machen

Um die Distanz zu überbrücken, müssen wir mehr Mitwirkung zu ermöglichen. Ich glaube, dass wir auch in der Kommunalpolitik manche Abläufe überdenken müssen. Die Gestaltung von Politik muss wieder näher ran an die Bürger. In der Corona-Krise haben wir eine Lektion gelernt, die wir jetzt nicht wieder vergessen sollten: Man muss nicht in einem Raum sitzen, um gemeinsam zu diskutieren und zu entscheiden. Die Digitalisierung sollten wir dazu nutzen, auch die Kommunalpolitik grundsätzlich zugänglicher zu machen. Die Vereinbarkeit von Familie und politischem Engagement etwa kann durch digitale Formate erheblich verbessert werden. Nutzen wir diese Chance!

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Mein Plädoyer, die Kommune ins Zentrum der politischen Debatte zu stellen, ist auch historisch begründet. Die erste Demokratie war vor 2500 Jahren die griechische Polis. Am bekanntesten ist natürlich der Stadtstaat Athen – allerdings mit dem erheblichen Makel, dass Frauen nicht wahlberechtigt waren. Kein Wunder, dass die attische Demokratie untergegangen ist.  

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