Geschichte einer Kölner FamilieNick bekam als Baby einen Schlaganfall

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Familie Opländer RAKOCZY

Mutter Julia und Vater Björn Opländer mit den zwei Söhnen Nick (l.) und John

  • Auch Kinder können einen Schlaganfall bekommen, oft bleibt er zunächst unentdeckt.
  • Als Nick wenige Monate alt war, bemerkten seine Eltern Entwicklungsverzögerungen.
  • Julia und Björn Opländer erzählen die Geschichte ihrer Familie und wie sie es schafften, ihren Optimismus nicht zu verlieren.

Köln – Irgendwas ist anders. Die rechte Hand. Irgendwas stimmt da nicht. Nick muss doch die Welt entdecken. Nach allem greifen, was er kriegt. Das machen Babys doch. Oder? Nick macht das nicht. Wenn er auf dem Rücken liegt, unter seinem Spielbogen mit den schaukelnden Anhängern, greift nur die linke Hand zu. Der rechte Arm bleibt still. Vielleicht ist es eine Muskelschwäche, denken die Eltern. Die Ärzte waren doch immer begeistert von Nicks Entwicklung. „Topfit“ nannten sie ihn nach den Untersuchungen.

Bei einem Termin zum Impfen spricht die Mutter ihre Beobachtung an. „Entspannen Sie sich“, sagt der Arzt. Es dauere eben ein paar Monate, bis ein Neugeborenes seine Beine und Arme richtig kontrollieren könne. Doch drei Monate vergehen und Nicks rechte Hand greift immer noch nicht. Wieder sucht die Mutter Rat. „Erst mal beobachten“, sagt der erste Arzt. „Sofort handeln“, sagt die Kollegin. Vielleicht ist es ein Hirntumor.

Diagnose ist Schock für die Familie

Fünf Tage Panik. Dann die MRT. Nick bekommt ein Schlafmittel. Vier Stunden, dann ist das Ergebnis da. Der Facharzt zeigt die Bilder. Ein schwarzes Loch im Kinderkopf. Ein Tumor aber ist es nicht. Erleichterung. Und gleichzeitig der erste Schlag.

Übergewicht. Bluthochdruck. Rauchen. Julia Opländer kennt die Risikofaktoren für Schlaganfälle bei Erwachsenen. Sie weiß, dass die Erkrankung jeden Tag viele Menschen ereilt. In Deutschland sind es jedes Jahr 270.000 Patienten. Aber dass es auch Kinder treffen kann? Wie soll sie das denn ahnen?

Nick ist der zweite Sohn von Julia und Björn Opländer. Blaue Augen, wuscheliges blondes Haar. Eine Woche braucht die Mutter, bis sie die Diagnose begreift. „Was haben wir nur Böses getan?“ Um die Geburt am 27. März 2015 soll es passiert sein. Vielleicht auch schon in der Schwangerschaft. Julia Opländer hat sich entschieden, nicht länger nachzufragen. Nicks Sprachzentrum ist betroffen. Sein rechter Arm und sein rechtes Bein sind leicht gelähmt. „Wird schon wieder“, sagen Freunde. „Nein“, sagt die Mutter. „Das bleibt jetzt so.“

Die Angst vor dem Wort „Behinderung“

Julia Opländer kann nicht stillstehen. Sie macht Termine. Bei Fachärzten, Therapeuten, Kliniken. Wenn sie zu Hause ist, wartet das Internet. Mit Elternforen, Ratschlägen und tausend schlimmen Geschichten. Ob Nick jemals sprechen kann? Oder laufen? Der Vater ist gelassener. „Lass uns einen Behindertenausweis beantragen“, sagt er. „Du hast doch einen Schuss“, sagt die Mutter. „Nick ist doch nicht behindert.“

Behinderung. Für Julia Opländer scheint das Wort so böse. So feststehend. Björns Mutter arbeitetet mit behinderten Kindern. Aber da gehört Nick ja wohl nicht zu. Die Mutter googelt, postet, forscht. Kurz überlegt sie ein Medizin-Studium anzufangen, um den Schlaganfall ihres Sohnes besser zu verstehen.

Schlaganfall bei Kindern oft unentdeckt

Etwa 300 bis 500 Kinder erleiden in Deutschland jährlich einen Schlaganfall. Marco Vollers glaubt, dass die Dunkelziffer höher ist. Er ist einer von zwei Schlaganfall-Kinderlotsen, die für die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe arbeiten. Oft werde ein Schlaganfall erst spät erkannt. Oft denken Ärzte an andere Erkrankungen. Bei Erwachsenen sind die Symptome deutlich. Doch ein Drittel der kindlichen Schlaganfälle passieren im Mutterleib oder während der Geburt. Bei Kindern also, die ohnehin noch nicht viel können.

Die beiden häufigsten Ursachen sind Infektionen und Vaskulopathien: eine Erkrankung, bei der sich die Gefäße teilweise oder komplett verschließen. Auch Probleme mit dem Herzen oder eine Blutgerinnungsstörung können ein Grund sein. Das kindliche Gehirn ist flexibel. Es kann einige Funktionen in andere Bereiche verlagern. Aber Langzeitfolgen sind trotzdem häufig – mit großen Unterschieden. Vollers kennt Kinder, die laufen können und Kinder, die im Rollstuhl sitzen. Laut der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe gibt es in Deutschland mehr als 5000 Familien, die ein betroffenes Kind haben.

Inzwischen ist Nick vier Jahre alt

Ende März 2019. Nick ist vor einem Tag vier geworden. Sechs Kinder waren zu Gast. Der Vater hat sich als Clown verkleidet, mit Bällen jongliert. Es gab einen Ballon-Tanz. Im Wohnzimmer hängen noch die Fußballgirlanden. Plastik-Tore stehen auf den Fliesen. Ein LED-Fußball surrt über den Boden. Nick kickt ihn mit dem linken Fuß zwischen John – seinem großen Bruder – und einer Freundin umher.

„Nick liebt Fußball“, sagt Julia Opländer. Seit einem Jahr spricht Nick. Mit zweieinhalb Jahren hat er angefangen zu laufen. Jetzt will er in den Fußballverein. Björn Opländer überlegt, sich als Trainer für Nicks Jahrgang aufstellen zu lassen. Der Sport soll nicht zur Frustration werden, wenn Nick merkt, dass er langsamer ist.

Julia Opländers elektronische Armbanduhr blinkt: WhatsApp-Nachricht. Eine Frau aus Niedersachsen schreibt, dass sie keinen Kita-Platz bekomme, weil keine Integrationshilfe bewilligt werde. Opländer schüttelt den Kopf. „Einerseits macht man die Kinder so behindert, andererseits sind sie es dann doch nicht.“

Selbsthilfegruppe hilft der Familie

Seit sie etwa sechs Monate nach der Diagnose einen Flyer mit der Aufschrift „SCHAKI – Deutschlands größte Selbsthilfegruppe für Familien mit Schlaganfallkindern“ entdeckt hat, ist Julia Opländer nicht mehr allein. Sie teilt sich ihre Sorgen mit etwa 500 Familien in ganz Deutschland und etwa acht Familien aus der Region. Opländer hat die Leitung der Gruppe übernommen. Alle paar Wochen gibt es Treffen. Das helfe, weil alle das Gleiche durchgemacht haben, sagt sie.

Aber Opländer sieht dabei auch Kinder, die es noch schlimmer getroffen haben als Nick. Die mit Epilepsie leben oder sich erst gut entwickelt und dann aber den zweiten Schlag bekommen haben. Manche können heute nicht mehr laufen. Im Oktober hat sich die Familie Makani angeschafft. Ein Mini-Australian-Shepherd, der epileptische Anfälle erkennen soll. Er schleckt Nick gern über das ganze Gesicht.

Nick bekommt verschiedene Therapien

Dienstag ist Therapietag. Erst Ergotherapie, dann Logopädie. In der Ergotherapie läuft Nick über einen Parcours aus einem Sandsack, einer Sprossenwand, drei Schaumstoffklötzen und einem Rollbrett. Während der Logopädie sitzt er auf einem Kinderstuhl an einem Schreibtisch, lernt Silben zu klatschen, ganze Sätze zu bilden und die Zunge im Mund frei zu bewegen.

Zwischen den Therapien rückt die Mutter die Stühle im Wartezimmer zusammen und greift nach dem Kartenspiel „Schwarzer Peter“. Sie teilt die Karten aus, Nick fallen sie aus den Händen. Die Mutter hat den Kartenhalter vergessen, mit dem Nick die Spielkarten alle in einer Hand halten kann. Opländer sortiert ein paar Karten aus. Jetzt kann Nick die Karten halten. „Boah, Nicki“, sagt die Mutter. „Du zockst mich doch bestimmt wieder ab.“

Angst vor der Schulzeit

Julia und Björn Opländer haben sich 2011 auf der AIDA kennengelernt. Auf der Kanaren-Kreuzfahrt. Er hat als Koch gearbeitet, sie in der Restaurantleitung. Heute ist das Leben anders. Julia Opländer arbeitet in einer Personalabteilung. Björn Opländer als Buchhalter. Beide Vollzeit. Zu Nicks Therapie kommen John-Tage, an denen sich alles mal nur um Nicks sechsjährigen Bruder dreht. Julia Opländer sagt, ihre Freizeit sei ihr egal. Aber manchmal vermisst sie das Leben auf dem Schiff. Dann holt sie es ins Wohnzimmer. Mit Leinwänden von weißen Sandstränden und einer Deckenlampe aus einem Schiffstau.

Von Nicks Zimmer aus schaut man auf ein Schulgebäude mit roten Backsteinen. Es ist die Grundschule, auf die Nick einmal gehen soll. Wenn sie ehrlich sei, sagt die Mutter, graue es ihr vor der Schulzeit. Angst vor den Worten, welche die anderen Kinder für Nick finden werden. Aber sie fürchtet sich auch davor, dass Nick wütend auf sich selbst werden könnte. Manche Kinder, hat Opländer gehört, hassen ihre gelähmte Hand so sehr, dass sie sie abschneiden wollen. „Deine rechte Hand ist unsere Lieblingshand“, sagen die Eltern.

An einem Freitag holt Julia Opländer Nick aus der Kita ab. Nicks beste Freundin ist dabei. Sie rennen auf dem Gehweg zwischen den Einfamilienhäusern. Nicks rechtes Bein zieht nach, doch das linke treibt ihn voran. Die Haare der Kinder hüpfen auf und ab. Nick lacht, da muss die Mutter auch lachen. „Nicht so schnell“, sagt sie. „Ich komme ja gar nicht hinterher.“

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