„Schönheitsideale werden präsenter“Kölnerin schreibt über Essstörungen durch Corona

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Rasimus

Irina Rasimus lebt in der Südstadt.

Köln-Innenstadt – Warum haben Sie und ihre Co-Autorin ausgerechnet jetzt Ihr Buch geschrieben? Gerade wurde in einer großen Studie festgestellt, dass die Häufigkeit schwerer Essstörungen während der Pandemie um fast die Hälfte angestiegen ist. Durch das Zurückgeworfensein auf das häusliche Umfeld, das Auflösen von Strukturen und Gewissheiten, durch Ängste und Stress haben Menschen nicht nur vermehrt zu Alkohol, sondern auch zu Essbarem gegriffen und so „Corona-Kilos“ angehäuft.

Inwieweit ist das Thema für Sie persönlich von Bedeutung? Als Jugendliche hatte ich selbst mit Essstörungen zu tun. Ich war ein leicht übergewichtiges Kind, habe irgendwann abgenommen und daraufhin viel positive Resonanz erfahren. Daneben habe ich familiäre Konflikte über mein Essverhalten kompensiert. Die Schönheitsideale habe ich schon damals als sehr prägend empfunden. Mittlerweile kenne ich die Mechanismen, wie die Schönheits-, Diät- und Lebensmittelindustrie Bedürfnisse weckt, die mit Unsicherheiten zu tun haben und den Wunsch, einem unerreichbaren Ideal zu folgen. Die Emma berichtet auch bereits seit Jahrzehnten über das Thema, hat beispielsweise 2007 die Initiative „Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn“ mit den Bundesministerien initiiert.

Warum sind Essstörungen in unserer Zeit so verbreitet? Es gibt ein permanent verfügbares Nahrungsangebot. So wird oft mit Essen versucht, auf körperlicher Ebene Bedürfnisse zu befriedigen, die eigentlich psychische sind. Zudem sind Schönheitsideale immer stärker präsent, beispielsweise über Castingshows. Bei Befragungen von Menschen mit Essstörungen sagten zwei Drittel, dass ihre Krankheit durch die Sendung Germany’s Next Topmodel beeinflusst wurde. In den sozialen Medien treten Influencerinnen als Vorbilder auf, geben Ernährungs- und Fitness-Tipps. Dabei sind die Bilder oft stark überarbeitet: Mit wenigen Klicks werden Lippen praller, Wangenknochen höher und die Haut ebenmäßig. Das vermittelt Mädchen einen völlig falschen Eindruck.

Sind nur die jungen Mädchen gefährdet? Nein. Das macht beispielsweise auch vor jungen Müttern nicht halt. Es gibt den Begriff des „After-Baby-Body“. Prominente präsentieren sich kurz nach der Geburt strahlend schön auf dem Laufsteg oder im Bikini. Hier in Köln gibt es Kliniken, die Behandlungspakete für Frauen nach der Schwangerschaft anbieten: Brustvergrößerung, Bauchstraffung, Vaginalstraffung, Botox gegen die Zeichen der Müdigkeit. Das jugendlich-schlanke Ideal gilt aber durchaus auch für Frauen nach den Wechseljahren und wird medial verstärkt.

Das Buch und seine Autorinnen

Edigo

Das Buch

Irina Rasimus wurde in Karlsruhe geboren. Sie ist 50 Jahre alt und nach ihrem Studium nach Köln gekommen. Die Kommunikationsdesignerin und PR-Beraterin arbeitet für die Zeitschrift „Emma“.

2007 haben Alice Schwarzer und die Emma-Redaktion unter dem Titel „Leben hat Gewicht“ ein Gipfeltreffen im Bundesgesundheitsministerium initiiert, um die Thematik Essstörungen wieder mehr in die Öffentlichkeit zu tragen. Bei dem Treffen hat Rasimus ihre Co-Autorin kennen gelernt und seitdem mir ihr an mehreren Projekten zusammengearbeitet. Margrit Hasselmann hat als Pädagogin und Referentin für Suchtprävention langjährige Erfahrung in der Therapie und Beratung von Menschen mit Essstörungen. Bis 2018 gehörte sie den Expertengremien des Bundesgesundheitsministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung an. Margrit Hasselmann/Irina Rasimus: Das eigene Maß – zwischen Essen, Hungern und Idealen,Edigo Verlag, 272 Seiten, 19,50 Euro (se)

Es bleibt aber vor allem ein eher weibliches Thema? Die sogenannten Idealmaße wie 90-60-90 gibt es ja auch nur für Frauen... Ja. Tatsächlich ist es so, dass in Zeiten, in denen Frauen einen emanzipatorischen Schritt nach vorne gemacht haben, beispielsweise bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Frauenwahlrecht, dann als Backlash auch Essstörungen verstärkt auftraten. Wenn sie sich ein Stück der Welt erobert hatten, wurden sie über Schönheitsideale und die Auseinandersetzung mit dem Körper wieder ein Stück zurückgeworfen.

Endet diese Auseinandersetzung dann typischerweise in Essstörungen? Nein, aber oft in zwanghaften Essgewohnheiten, die auch viel Leid verursachen können und mit denen sich unser Buch vor allem befasst, wie dauerndes Diäthalten, abendliche Essattacken, die Aufteilung in schlechte und gute Lebensmittel, Körperscham. Wir wollen vermitteln, wie man wieder zu genussvollerem Essverhalten und mehr Körperzufriedenheit zurückfinden kann. Dafür muss man an die tieferen Ursachen der Essproblematik heran. Was sind denn die tieferen Ursachen? Auslöser können Umbruchsituationen sein oder psychische Belastungen, die Schwierigkeit, Grenzen zu setzen, mit Stress umzugehen oder Konflikte offen auszutragen. Stattdessen wird übermäßig gegessen, vielleicht heimlich wieder erbrochen, um Spannungszustände auszuhalten oder über Diäten und Hungern Kontrolle auszuüben – wenigstens über den eigenen Körper. Eine Essproblematik ist eine Art fehlgeleiteter Lösungsversuch, Gefühle zu regulieren.

Wie schaffen Betroffene es, sie anders, nachhaltiger zu regulieren? Wir neigen dazu, innere Auseinandersetzungen auf eine äußere Ebene zu verlegen, wo sie aber nicht zu klären sind. Auch die fünfte Achtsamkeits-App bringt nichts, wenn ich mir selbst nicht nah bin. Auf der Suche im Außen trifft man allzu oft auf Industrien, die damit Profite machen. Wir möchten mit unserem Buch eine Hilfe geben, sich im Inneren auf die Suche nach sich selbst zu begeben, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse wieder zu spüren und sich mit sich selbst zu versöhnen.

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