Amphi-Festival in Kölner Tanzbrunnen„Wir sind die Toten von morgen“

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Grabengel Sonja ist mit ihren Freunden Thomas und Florian zum Amphi-Festival gekommen.

Grabengel Sonja ist mit ihren Freunden Thomas und Florian zum Amphi-Festival gekommen.

  • Im Tanzbrunnen trafen sich am Wochenende 12000 Gothic-Fans, um friedlich zu feiern und ein bisschen anders zu sein.
  • Corina und Peter haben sich vor 15 Jahren auf dem World-Gothic-Treffen in Leipzig kennengelernt – aus ihrer Liebe erwuchs Jeremy, der inzwischen zehn Jahre alt ist und wie seine Eltern schwarz trägt.
  • Lumpy, der einen Totenschädel über den Kopf gestülpt und sich eine blutüberströmte Brust geschminkt hat, ist ein Freund des extrovertierten Outfits.

Köln – „Ich bin der Grabengel der Menschheit“, stellt sich Sonja aus Koblenz vor. Sonja, Realschullehrerin für Mathe und Physik, trägt ein schwarzes, tief dekolletiertes Kleid mit Mieder, einen Rosenkranz auf dem Kopf und um die Taille eine Trauerschleife mit den Lettern „Wir sind die Toten von morgen“.

„Wir leben so kurz auf dieser Welt“, sagt Sonja, „ich glaube, wenn wir uns bewusster machen, wie schnell wir wieder weg sind, könnten wir es schaffen, weniger zu streiten, keine Kriege mehr zu führen, und die Erde so zu hinterlassen, dass unsere Kinder und Enkelkinder es auch noch schön haben.“

Für Sonja heißt Gothic, „anders sein zu dürfen, nicht so viel Wert auf Statussymbole und Konsum zu legen“, „... und sich nicht besinnungslos vollzusaufen und dann mit einem Spanferkelkopf Fußball zu spielen, das habe ich mal bei Rock am Ring gesehen. Gothic heißt friedlich sein“, assistiert ihr Freund Thomas.

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Rund 12.000 überwiegend schwarz gekleidete Menschen kamen am Samstag und Sonntag in den Tanzbrunnen. Die Friedfertigkeit ist auf dem 15. Amphi-Festival greifbar: Ein Cyberpunk mit Gummiwuschelmähne leert sein Mixgetränk säuberlich in einen Gulli.

Vor der Hauptbühne hat eine Familie mit zwei Kindern ihre Picknickdecke ausgebreitet, es gibt Obstsalat, Frikadellen, Cola und Guinness, derweil der Sänger Faderhead auf der Bühne mit gefälligen Electrospielarten und Housebässen jongliert. Den Gruftengeln, Krähen und Fledermäusen gefällt es; vorne vor der Bühne darf auch Pogo getanzt werden – schubsen, ohne sich wehzutun.

„Auf ein normales Rockfestival würden wir Jeremy eher nicht mitnehmen“

Corina und Peter haben sich vor 15 Jahren auf dem World-Gothic-Treffen in Leipzig kennengelernt – aus ihrer Liebe erwuchs Jeremy, der inzwischen zehn Jahre alt ist, wie seine Eltern schwarz trägt, dazu neongelbe Kopfhörer gegen den Lärm. „Gestern durfte ich bei Solitary in den Pressegraben zum Fotografieren“, sagt Jeremy.

Seine Eltern ab und zu mal beide zusammen zu sehen, findet er auch ganz gut. Die Festival-Liebe hielt nämlich nicht – „aber wir nutzen die Konzerte jetzt, um uns zu dritt zu sehen“, sagt Peter. „Auf ein normales Rockfestival würden wir Jeremy eher nicht mitnehmen.“

Normal ist auf dem Amphi-Festival, was gefällt: schwarze Strapse, Rüstungen, Hörner, eine Frau, die ihren Mann an der Kette führt – offenbar den ganzen Tag über. Auffällig: Unter den Besuchern sind mehr Frauen als auf Rockfestivals. Der Körperkult sticht ins Auge, Tätowierungen gehören auch in der Gothic-Szene zum guten Ton – Fitnessfetischisten sind allerdings deutlich seltener anzutreffen. Bauchfrei trägt auch, wer Bauch hat. In größerer Zahl ist die Lack- und Lederfraktion zugegen.

Die Frage an eine Frau mit orangenen Gummihaaren und schwarzem Latexanzug, was das denn für eine originelle Verkleidung sei, zielt leider daneben: „Das ist keine Verkleidung, das ist eine Lebenseinstellung. Ich glaube, dass hier jeder schon mal eine dunkle Erfahrung gemacht hat und sich dessen ziemlich bewusst ist“, sagt Miriam aus Köln, die mit Gabor aus Ungarn zur Hauptbühne schlendert.

„Als Cyber-Punk geht es mir aber eher ums Tanzen als um den Tod“, feixt Gabor. Miriam lacht. Morgen im Büro wird ein Teil ihrer Lebenseinstellung – der Latexanzug und die Gummi-Perücke – im Kleiderschrank bleiben. „Aber schwarz sind die Klamotten auch im Alltag.“

Der Nihilist trägt Klunker

Vor der Hauptbühne tanzt selbstvergessen Gruftengel Sonja. Ein paar Meter weiter lässt sich ihre These vom Konsumverzicht spielend leicht widerlegen: „Festival Merchandise“ heißt es schon an einem Shop am Eingang, schwarze Wasserbeutel aus Plastik werden für zwei Euro angeboten.

Hinter der Hauptbühne erstreckt sich ein beispielhaftes Potpourri an Szeneshops: Gasmasken und rote Kontaktlinsen, Teufelsquietscheenten, eine schwarze Maske mit Hörnern, Nietenjeans, Spitzenröcke, Dessous, High Heels, Plattformschuhe, bedruckte T-Shirts mit Zeilen, die Todessehnsucht ausdrücken, Ketten, Krähennester als Perücken, Totenkopfringe und Ketten – der Nihilist trägt Klunker.

Auch Lumpy, der einen Totenschädel über den Kopf gestülpt und sich eine blutüberströmte Brust geschminkt hat, ist ein Freund des extrovertierten Outfits. Sonja ficht das nicht an: „Die Trauerschleife habe ich bei Ebay bekommen, einiges habe ich selbst genäht, manches kaufe ich mir auch“, sagt die Mathelehrerin. „Aber wir tragen die Outfits in 20 Jahren noch. Gothic sein heißt auch nachhaltig sein.“

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