Die Nazis in der Kölner SüdstadtAnnette Wieners erzählt vom Alltag im Dritten Reich

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Annette Wieners am Schauplatz ihres Romans, der Severinstraße.

Innenstadt – Nein, die Nazis hatten es in Köln nicht schwerer als anderswo. Davon ist die Autorin und Journalistin Annette Wieners inzwischen überzeugt. Den Mythos, die Kölner hätten sich der mörderischen Ideologie nur zögerlich angeschlossen, will sie nicht gelten lassen. Bei den Recherchen zu ihrem sechsten Buch, das am 23. September erscheint, habe sie erkannt, wie schnell der Hass im Alltag der Stadt selbstverständlich wurde.

Alltag in der Nazi-Zeit

Vor diesem historischen Hintergrund hat sie die Handlung ihres neuen Romans angelegt, hat sich außerdem von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirieren lassen und als Schauplatz einen ganz konkreten Ort in der Südstadt gewählt.

„Das Mädchen von der Severinstraße“ heißt ihr Buch und darin erzählt sie die Geschichte von Maria Reimer, einer jungen Frau, die Ende der 1930er Jahre, inmitten der Verrohung der deutschen Gesellschaft, Fotomodell werden will. Sie skizziert den Alltag im Faschismus mit harten Strichen: Ein jüdisches Mädchen, das vor die Straßenbahn gestoßen wird und stirbt, ein jüdischer Junge, der verprügelt wird, weil er im falschen Geschäft Bonbons kaufen will. „Die Brutalität rückt der Familie von Maria immer näher“, beschreibt Wieners, wie sich die historischen Umstände den Hauptfiguren offenbaren.

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Sie wollte den Alltag in dieser Zeit darstellen und hat auch deshalb die „typisch kölsche“ Straße als Fluchtpunkt des Romangeschehens gewählt. Sie beschreibt in ihrem Roman die „Arisierung“ der Einkaufsstraße, wie nicht-jüdische Geschäftsleute und Händler von der Verdrängung ihrer jüdischen Konkurrenten, von der Gewalt gegen sie und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage profitieren. Bei ihren Recherchen stößt sie auf eine Zeitungsanzeige aus dem Jahr 1933. Die Geschäftsleute der Severinstraße hatten sich zusammengetan und unter der Überschrift „Denk deutsch, kauf deutsch, nie beim Juden“ für ihre 21 „christlichen Geschäfte“ geworben, darunter die schon lange in der Straße ansässige „Brauerei Reissdorf“, Fischhändler, Bäckereien und Gaststätten.

Großmutter träumte von Model-Karriere

Die Recherchen waren für Wieners auch ein persönliches Anliegen. Sie verwebt die Biografie ihrer Großmutter mit der Romanhandlung. Ihre Großmutter wuchs zwar in der Neustadt südlich des Chlodwigplatzes auf, träumte aber ebenfalls von einer Karriere auf den Laufstegen der Welt. Wie die Romanfigur musste sie diesen Traum nach dem Willen ihres Vaters aufgeben. Später, nach dem Tod ihres Mannes, erfährt Wieners Großmutter, dass dieser ohne ihr Wissen Geld gehortet und im gemeinsamen Haus versteckt hat. Diese beiden Männer, ihr Vater und ihr späterer Ehemann, hätten sie „klein gehalten“, so beschreibt Wieners die Wahrnehmung ihrer Großmutter, der sie das Buch gewidmet hat.

Geldversteck im Haus in Forsbach

Diese Konflikte überträgt sie auf ihre Romanfigur mitsamt dem bizarren Moment, in dem ihre Großmutter nach dem Tod ihres Mannes die geheimen Geldverstecke im gemeinsamen Haus in Forsbach entdeckt – eine Geschichte, die sie immer und immer wieder erzählt habe. „Ich habe erst spät verstanden, was für ein guter Romanstoff das ist“, sagt Wieners. Im Roman untersagt der Vater, ein Geschäftsmann, dass aus den ersten Foto-Shootings mehr wird. Auch der Flirt mit dem jüdischen Fotografen Noah wird damit aussichtslos. Parallel erzählt Wieners die zweite Geschichte, die sie ebenfalls aus dem Leben ihrer Großmutter auf die Romanfigur übertragen hat: Der unerwartete Fund, der Geld, Goldbarren und jede Menge Fragen zutage gefördert hatte.

Frauenbild der Nazis

Woher ihr echter Großvater das Geld hatte, ist unklar. Und ebenso unklar bleibt, warum er das Vermögen vor seiner eigenen Frau geheim hielt. Wieners recherchiert aber, womit die Firma, in der ihr Großvater arbeitete, nach dem Krieg Geld verdiente. Im Roman wird daraus eine direkte Verbindung zwischen dem gehorteten Vermögen und den Profiteuren der Kriegsmaschine der Nazis. Und auch die Vereinnahmung der Modeindustrie durch die Nazis, die in ihr ein Mittel zur Durchsetzung ihres Welt- und Frauenbildes sehen, beschreibt Wieners en passant.

Familiengeschichte oder Stoff für den Roman?

Für "Das Mädchen auf der Severinstraße" hat die Autorin intensiv recherchiert. Wieners erzählt, sie habe im Laufe ihrer Recherche immer wieder entscheiden müssen, was sie für das Buch verwenden möchte, was der Handlung diene und was eher ihrem Interesse an der Familiengeschichte förderlich sein könnte. „Ich habe mich aufgeteilt“, sagt sie. Die Person ihrer stets elegant gekleideten Großmutter hat sie dabei geleitet. Herausgekommen ist eine Geschichte, ein Kontrast zwischen einem Mädchen, das von einem glamourösen Leben träumt, das resigniert und – wie alle in ihrer Umgebung – mit dem bitteren, immer brutaler werdenden Alltag in der Diktatur klar kommen muss.

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