Integrative Gruppe in KölnAus dem Rollstuhl an die Kletterwand

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Die fünfjährige Aylin liebt es mit Katrin Degenhardt in luftiger Höhe an der Kletterwand zu hängen.

Köln – Mit jedem Griff und jedem Tritt entfernt Martina Heuter sich weiter vom Boden. Dort oben zählt nur noch, wie es weiter geht. Nach oben. Fasst sie rechts oder links an? Wohin soll das Bein? Hochkonzentriert hält sie immer wieder Rücksprache mit Paulus Vorderwülbeck – ihrem Bei-Kletterer. Er setzt ihr Bein dann an die richtige Stelle. Stützt sie, wenn nötig.

Martina ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und erklimmt an diesem trüben Nachmittag in acht Metern Höhe die Wand in der Kletterhalle Canyon Chorweiler. Ihr Lebensgefährte Michael schaut von unten zu und nickt anerkennend. Seit eineinhalb Jahr kommt das Paar regelmäßig zu den Treffen der Handicap-Klettergruppe. „Endlich ein Sport, den wir beide zusammen machen können“, sagt er.

Auch mit MS Höhen bezwingen

Am Boden steht ein verwaister Rollstuhl, dessen Besitzer Falko Nettekoven ebenfalls gerade in schwindelerregender Höhe in den Seilen hängt. Der drahtige 66-Jährige mit der randlosen Brille hat die Handicap-Klettergruppe vor fünf Jahren gegründet. 2005 wurde bei ihm Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert, eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Die Entzündungen führen dazu, dass das Gehirn Signale nicht mehr korrekt weiterleiten kann. Motorische Störungen, Sehschwierigkeiten, Lähmungen oder kognitive Probleme können die Folge sein.

Nettekoven war aktiver Bergsportler und suchte auch mit der Krankheit einen Weg, weiterhin Höhen zu bezwingen. Die Welt von oben sehen, eben das Gipfel-Erlebnis spüren. „Klettern ist gerade für neurologische Erkrankungen die beste Therapie“, ist Nettekoven überzeugt, der mit seinem Rollstuhl auch Bergtouren unternimmt. „Und Adrenalin ist die beste Medizin.“

Ein familiäres Miteinander

Viele der deutschlandweit etwa 25 inte-grativen Klettergruppen sind aus MS-Sportgruppen entstanden. Warum, weiß auch Nettekoven nicht mit Sicherheit zu sagen. „MSler setzen sich in Selbsthilfegruppen sehr aktiv mit ihrer Krankheit auseinander“, sagt er. So entstünden  schnell Gemeinschaften, die sich organisieren. Die Klettergruppe, die sich einmal im Monat trifft, ist Teil des Kölner Alpenvereins. Einen therapeutischen Ansatz verfolgt sie nicht. Jeder, egal ob mit einem körperlichen, geistigen oder ganz ohne Handicap, ist willkommen. Sogar zwei kleine schwarze Mischlingshunde rennen zwischen den Menschentrauben in der  Halle umher. 

Es gibt an diesem Nachmittag keine festen Teams, auch viele Mitglieder im Rollstuhl oder mit einer geistigen Beeinträchtigung sichern unten am Boden. Das heißt, sie halten unten das Seil, wenn ihr Partner an der Wand hängt. Wer sich durch die bunte, laute Halle bewegt, bemerkt das herzliche, familiäre Miteinander der Gruppe. Vertrauen sei eben entscheidend, erklärt einer der Kletterer – in Mensch und Material.

„Wer einmal kommt, der bleibt auch“

Eins haben die etwa 40 regelmäßigen Teilnehmer der integrativen Klettergruppe gemeinsam: Sie kommen irgendwann die Wand hoch. So wie Martina. Jeder in seinem Tempo, mancher mit zwei Helfern, andere nicht beim ersten Mal, sondern erst nach vielen Versuchen. „Manche krabbeln in zehn Minuten die Wand hoch, andere brauchen eine Dreiviertelstunde. Unten geblieben ist noch keiner“, erzählt Nettekoven stolz und grinst. Er habe noch nie so viele Freudentränen gesehen wie in der Kletterhalle.

Er wirbt für das Abenteuer, die Herausforderung und die Gemeinschaft seiner ganz besonderen Klettergruppe. „Wer einmal kommt, der bleibt auch“, stimmt ihm seine Mitorganisatorin Katrin Degenhardt zu, während sie den Gurt ihrer Kletterpartnerin Aylin lockert. Die Fünfjährige, Spitzname Kamikaze-Aylin, strahlt übers ganze Gesicht, als sie wieder unten auf dem Boden sitzt. „Unsere Tochter liebt nun einmal Extremsport“, sagt Vater Mustafa Engin-Bülbül, der mit seiner Familie einmal im Monat aus Bielefeld kommt.

Ohne Bei-Kletterer würde es nicht funktionieren

Aylin hat eine Fehlbildung der Wirbelsäure und sitzt im Rollstuhl. Doch hier in der Halle stört es niemanden, wenn das Mädchen fröhlich glucksend mit Hilfe der Hände fortbewegt  und ihre Beine  hinterher zieht. „Jeder kommt eben mit anderen Voraussetzungen hierher und muss seinen eigenen Weg finden, die Wand hochzukommen“, sagt Degenhardt.

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Die Journalistin hat verschiedene Paralympic-Wettbewerbe moderiert und ist so als Bei-Kletterin zur Gruppe gekommen. Ohne diese würde es nicht gehen – gesunde Kletterer wie Degenhardt und Vorderwühlbeck, die fremde Füße an die richtige Stelle setzen und sich hinterherhangeln. Gelassenheit ist entscheidend, auch Einfühlungsvermögen, Hartnäckigkeit und ein gutes Bauchgefühl sind nötig.

Für Degenhardt bedeutet Klettern  sich selbst überwinden und am Ende oben ankommen. „Mir hat mal ein Rollstuhlfahrer gesagt: Ich sehe den ganzen Tag nur Ärsche“, erzählt die quirlige Blondine lachend. „Da tut ein Perspektivenwechsel sehr gut.“

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