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Interview mit Bahnhofsmission-Chefin„Unsere Arbeit ist ein Frühwarnsystem für Köln“

Lesezeit 8 Minuten
Corinna Rindle vor der Bahnhofsmission im Hauptbahnhof

Corinna Rindle vor der Bahnhofsmission im Hauptbahnhof

Köln – Frau Rindle, was macht die Arbeit am Bahnhof so besonders?

Corinna Rindle: Der Kölner Bahnhof ist so etwas wie das Zentrum der Stadt. Ein faszinierender Schmelztiegel und ein ganz eigener Mikrokosmos. Eben weil es hier alles gibt: Arme und Reiche, gestresste, hetzende Menschen und Menschen mit ganz viel Zeit. Erfolgreiche Geschäftsleute und psychisch Kranke.

Dazu alle Emotionen dieser Welt: Freude, Trauer, Wut, Gewalt. Auf diese Art bietet der Bahnhof zumindest scheinbar Teilhabe am Leben: weil hier immer etwas passiert. Gleichzeitig ist unsere Arbeit eine Art Frühwarnsystem für Köln.

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Wie meinen Sie das?

Wir sind den ganzen Tag im Bahnhof unterwegs und kriegen hier sehr unmittelbar und zeitnah mit, wenn sich etwas bewegt. Alle sozialen Probleme, die auf die Stadt Köln zukommen, die spüren wir hier deutlich früher. Unsere Aufgabe ist es dann, diese Beobachtungen an soziale Träger und die Politik weiterzugeben, um darauf reagieren zu können.

Zur Person

Corinna Rindle

Corinna Rindle, 49 Jahre alt, Diplomsozialpädagogin, lebt seit 25 Jahren in Köln – erst in der Südstadt, derzeit in Nippes. In der Kölner Bahnhofsmission arbeitet sie seit mehr als sechs Jahren als Leiterin. Davor betreute sie eine Krisen-Einrichtung für Jugendliche in Köln. Ihre Hobbys sind Lesen und Fußball gucken: Sie ist Fan des FC Köln, aber auch Bayern München, da sie in Bayern geboren und aufgewachsen ist. (sbs)

Nennen Sie mal ein Beispiel?

Nehmen Sie zum Beispiel die Südosteuropäer. Die sind schon 2013 in größerer Zahl hier am Hauptbahnhof gelandet. Menschen, die hoffen, hier Arbeit zu finden und etwas Geld nach Hause schicken zu können. Das sind Menschen, die Sie dann irgendwann später an Ihrem Supermarkt als Bettler wiedertreffen. Heute – also vier Jahre später – hat sich das Problem so massiv zugespitzt, dass der größte Teil des Kölner Wohnungslosen-Hilfe-Systems wegen Überlastung für Osteuropäer geschlossen ist. Duschen dürfen die jetzt nur noch in der Einrichtung „Gulliver“.

Es hat sich also ein Zwei-Klassen-System bei den Obdachlosen etabliert.

Ja, das ist so. Und keiner weiß, um wie viele Menschen es sich in Köln handelt. Rund 5000 Obdachlose gibt es laut der Wohnungslosenstatistik des Landes Nordrhein-Westfalen in Köln. Die Statistik erfasst aber nur Menschen, die in Köln gemeldet sind. Also eben nicht diese Gruppe, die rechtlich wie Touristen unterwegs ist und keinerlei soziale Ansprüche hat. Das heißt, dass die Zahl der Obdachlosen deutlich darüber liegt. Keiner kann sagen, wie viele es sind.

In diesem Fall kann man konstatieren, dass das Frühwarnsystem nicht dazu geführt hat, dass auf städtischer Ebene frühzeitig Lösungswege gesucht wurden.

Das ist eben leider ein grundsätzliches Problem. Soziale Arbeit kostet Geld. Und das gibt es eben allenfalls erst dann, wenn es richtig brennt und der öffentliche Druck zu groß wird. Das kann man ja am Ebertplatz wieder sehen: Es muss erst einer getötet werden, bis jetzt wirklich was passiert. Obwohl das Problem längst bekannt ist und die Pläne für den Umbau längst fertig sind. Das ist frustrierend.

Sie selber stellen anhand der Arbeit im Bahnhof sehr deutlich fest, dass die Themen Not und Armut hier in Köln näher kommen. Können Sie das für die Bahnhofsmission auch zahlenmäßig festmachen?

Hier spricht die Zahl eine deutliche Sprache: Wir hatten im Jahr 2012 insgesamt 13 000 Kontakte mit Hilfesuchenden. Im Jahr 2016 hat sich die Zahl nahezu verdreifach mit 37 267 Kontakten. Und wer – wie wir – in dem Jahr täglich über 100 Flüchtlinge begleitet hat, sie in ihre Züge Richtung Erstaufnahmeeinrichtung Dortmund gesetzt hat, wer in diese Augen geblickt hat, aus denen so viel Geschichte, Anstrengung und Leid sprach, der machte sich keine Illusion über die Dimension der Aufgabe.

Die meisten sind traumatisiert und es wird sehr viel Geld kosten, sie zu integrieren. Der schwierigste Teil kommt noch.

Stattdessen sitzen die Menschen ohne Aufgabe in den Aufnahmeeinrichtungen und dürfen sich dort noch nicht mal ihr Essen selber kochen.

Das ist fatal. Die Menschen brauchen Beschäftigung, sie brauchen Sprachkurse. Wenn wir hier als Stadt nicht aktiver werden, wird sich das absehbar in Sucht und Gewalt im Stadtbild manifestieren. Und dann klingeln wieder überall die Alarmlocken.

Corinna Rindle über die Silvesernacht und Vorurteile gegenüber Obdachlosen.

Hat sich durch die Silvesternacht die Situation am Bahnhof verändert?

Die Silvesternacht war ein Einschnitt. Es gibt deutlich mehr Polizeipräsenz auf und um den Bahnhof. Wir merken da durchaus positive Effekte, weil viel weniger Menschen beklaut werden. Die Zahl derer, die hier nach einem Diebstahl ohne Papiere und Geld stehen, ist gesunken. Gleichzeitig spürt man mehr Vorbehalte untereinander, es ist wird einfach misstrauischer, vorsichtiger geguckt. Die Videokameras am Bahnhof halte ich allerdings für präventiv sinnfrei. Prävention funktioniert immer nur mit Menschen.

Im Stadtbild und in den Bahnen der KVB sieht man immer öfter Obdachlose. Das gängigste Vorurteil lautet: Die sind doch selber Schuld an ihrem Schicksal. Was entgegnen Sie, die jeden Tag in die Begegnung mit den Wohnungslosen geht, darauf?

Ich würde antworten: Was weißt du über auch nur einen dieser Menschen. Setz dich doch mal zu einem und trau dich, nachzufragen, wie er da gelandet ist. Geh auch körperlich auf Augenhöhe. Oft sind die ganz überrascht, weil sie das nicht gewöhnt sind, gesehen zu werden.

Das sind oft Menschen, denen durch ein Ereignis der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich habe da den obdachlosen Handwerker vor Augen. Grundsolide. Immer gearbeitet. Dann starb plötzlich seine Frau, was er nicht verkraftet hat. Und die Abwärtsspirale begann: Alkohol, Jobverlust, Wohnung weg. So etwas zu hören, das verändert den Blickwinkel.

Wie halten Sie es denn, wenn jetzt in der Vorweihnachtszeit in Köln an jeder Ecke Obdachlose betteln oder ihre Zeitung verkaufen? Da tritt doch ein Sättigungseffekt ein.

Das stimmt. Ich werde freundlich grüßen und das dann nach Tagesform entscheiden, ob ich etwas geben möchte. Wenn ja, würde ich direkt fragen „Was brauchen Sie?“ Wenn dann ein Kölsch gewünscht wird, dann kaufe ich das, weil derjenige es dann braucht. Ein kalter Entzug kann für diese Menschen tödlich sein. Und wenn er einen Rasierer wünscht, dann kaufe ich den. Keine Option ist, ungefragt, das vielleicht an diesem Tag fünfte Brötchen zu kaufen. Das ist eben nicht Augenhöhe, sondern entmündigend.

Die Begegnung „auf Augenhöhe“ wie Sie sagen und das vorbehaltlose Zuhören ist sozusagen der Kern der Bahnhofsmission. Was können Sie damit konkret bewegen?

In den Behörden gibt es so genannte Fachleistungsstunden, in denen die Themen in hohem Tempo abgearbeitet werden. Aber manchmal brauchen die Dinge Zeit und ein vorbehaltloses, offenes Ohr. Manchmal kommt jemand wochenlang und trinkt täglich einen Kaffee.

Ich habe einen obdachlosen Mann vor Augen, der auf Nachfrage jeden Tag sagte: „Alles bestens“. Irgendwann habe ich ihn einfach nur gefragt: Wollen Sie so weiterleben? Das war der Anfang.

Und dann?

Dann haben wir losgelegt und die Themen Stück für Stück abgearbeitet. Der Mann war nicht angemeldet, keine Krankenversicherung, kein Einkommen, krank und Schulden. Dann haben wir uns mit ihm um die Anmeldung gekümmert, auch bei der Krankenkasse. Anschließend konnten wir ihn zur Schuldnerberatung vermitteln. Baustein für Baustein. Heute hat der besagte Mann eine Wohnung und arbeitet in einem Hausmeisterservice. „Ich habe genau diesen Tritt in den Hintern gebraucht“, sagt er heute.

Die Bahnhofsmission

Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist die Bahnhofsmission Anlaufstelle für alle Menschen im Bahnhof. Sie bietet Hilfe in akuten Notsituationen, Rat, Schutz und Weitervermittlung unabhängig von Konfession, Nationalität und sozialem Status. Wichtiges Angebot ist auch die Hilfe für Reisende beim Umsteigen (Senioren, Blinde, Behinderte). Sie bietet darüber hinaus Rückzugsräume für Reisende, so etwa für Familien in der eigens eingerichteten Kinderlounge. Regelmäßig gibt es im Rahmen der „Kultur an Gleis 1“ Ausstellungen. Ab dem 22. November zeigt der Künstler Günter Winckler Bilder zum Thema „Blicke auf Europa“.

Gemeinsame Träger der ökumenischen Einrichtung sind der katholische Verband In Via und das Diakonische Werk. Finanziert wird die Einrichtung durch die Kirchen, städtische Fördermittel und Spenden. (ari)

Sie sind Netzwerker, die an Hilfseinrichtungen jeder Art vermitteln.

Das stimmt. Bei uns landen auch Frauen, die von Männern geschlagen werden und die wir in ein Frauenhaus vermitteln oder muslimische Mädchen, die zwangsverheiratet werden sollen und sich weigern. Die haben Angst, umgebracht zu werden, nachdem sie sich geweigert haben. Auch die bringen wir etwa über die Organisation Hennamond in Sicherheit.

Aber es sind ja nicht nur Obdachlose und Gewaltopfer, mit denen Sie zu tun haben. Viele Reisende nutzen Ihre Hilfe beim Umsteigen oder Kölner Kinder aus Trennungsfamilien den Begleitservice, wenn sie am Wochenende zum Papa nach Berlin fahren.

Ja, es ist immer schade, dass nicht die ganze Arbeit so bekannt ist. Viele wissen gar nicht, dass sie unsere Ehrenamtler für die Hilfe beim Umsteigen quasi vorab fix buchen können und trauen sich daher das Reisen nicht mehr zu. Das ist schade und müsste nicht sein.

Wie viele Ehrenamtler arbeiten denn für die Kölner Bahnhofsmission?

Es sind 60 Ehrenamtler im Alter von 18 bis 80 Jahren. Es sind die oft sehr kurzen Begegnungen, die die Arbeit so wertvoll machen. So wie letztlich der Ehrenamtler, der einen Mittsechziger beim Umsteigen begleitet hat. Dieser erzählte so im Gehen, dass er final an Krebs erkrankt ist und nun eine Abschiedstour zu Freunden und Verwandten mache, um danach ins Hospiz zum Sterben zu gehen. In dieser Flüchtigkeit der Begegnung erfahren Sie manchmal ganz intime Dinge, die das Gespräch zu etwas Unvergesslichem und gleichzeitig Wertvollen machen.

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