Interview mit RassismusexperteMark Terkessidis: „Die Leute haben es satt“

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Mark Terkessidis

Mark Terkessidis 

  • Den in Berlin und Köln lebenden Autor Mark Terkessidis überraschen die Proteste gegen Rassismus in Deutschland nicht. „Es hat sich etwas angestaut. Die NSU-Anschlagsserie, die mangelnde Aufklärung, Hanau. Die Leute haben es satt.“
  • Auch wenn in NRW circa 15 Prozent der Polizeibeamte einen Migrationshintergrund haben, gebe es strukturellen Rassismus bei der Polizei sowie auch in anderen Behörden.
  • Ein Interview über institutionellen Rassismus, Racial Profiling und den Bedeutungsverlust von Köln als internationale Kulturmetropole: „Köln hat sich atemberaubend provinzialisiert“.

Herr Terkessidis, die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt haben sich wie ein Lauffeuer verbreitet. In Köln und anderen deutschen Städten gingen zehntausende auf die Straße – trotz Corona. Sie beschäftigen sich seit zwei Jahrzehnten wissenschaftlich mit dem Phänomen Rassismus. Hat Sie die Wucht der Proteste hierzulande überrascht?

Ja und nein. An dem Wochenende im Zusammenhang mit George Floyd war ich schon überrascht, dass so viele kamen. Damit hatten ja auch die Veranstalter nicht gerechnet. Aber dass sich etwas angestaut hatte, das war klar: Die NSU-Anschlagsserie, die mangelnde Aufklärung, Hanau und die Verharmlosung von Rassismus. Die Leute haben es satt. Es gibt immer mehr Personen mit Migrationshintergrund und People of Color, deren Zugehörigkeitsgefühl zur Bundesrepublik nicht mehr in Frage steht. Das unterscheidet sich von den Neunzigerjahren, wo sie als „Ausländer“ bezeichnet wurden. Man nimmt Ungleichbehandlungen daher sehr viel stärker wahr und dann kommt der Tod von George Floyd und das wird zum Auslöser. Die USA sind der globale Bildlieferant.

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Der Begriff „Rassismus“ ist mittlerweile im politischen und medialen Diskurs angekommen. Wie hat er sich gewandelt?

In Deutschland kam der Begriff erst in den frühen Neunzigerjahren im Zusammenhang mit den Anschlägen in Hoyerswerda und Rostock und ganz besonders mit Solingen auf. Das wurde zunächst vehement zurückgewiesen, was teilweise auch verständlich war, weil die Bezeichnung hierzulande für die Zeit des Nationalsozialismus stand und der Vergleich mit den Geschehnissen in der BRD hinkte. Wenn also Rassismus gesagt wurde, dann löste das quasi eine moralische Katastrophe aus. Bezogen auf die BRD ging es dann immer um Rechtsextremismus und Gewalt. Erst in den letzten Jahren wird er auch auf die Alltagsebene übertragen. Eine fest verankerte Ansicht ist immer noch, dass Rassismus die große Ausnahme im Funktionieren ist. Und der Vorwurf löst immer noch die Reaktion aus: „So sind wir doch eigentlich nicht“. Aber Rassismus hat systemischen Charakter. Das klingt erstmal schlimm, aber gleichzeitig ist klar: Es geht hier nicht um einzelne, böswillige Individuen, sondern um institutionell herbeigeführte Ungleichheiten, die wir als Diskriminierung behandeln müssen: Auf dem Arbeitsmarkt, bei den Behörden oder in den Schulen. Die Polizei beispielsweise hat das nach NSU versäumt.

Rassismus bei der Polizei wird dieser Tage auch stark diskutiert. Hier herrscht der Konsens, dass die deutsche Polizei längst nicht so anfällig für Rassismus ist wie die amerikanische. Und dennoch sprach SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken von einem latenten Rassismus auch hierzulande. Finden Sie diese Diskussion gerechtfertigt?

Absolut. Eine 1:1 Übertragung von Amerika auf Deutschland geht sicher nicht. Wenn wir in Frankreich wären, würde ich das eher sagen. Dort gibt es eine Geschichte von Polizeigewalt, bei der schwarze Jugendliche oder Jugendliche mit arabischer Herkunft zu Tode gekommen sind. In Deutschland sind die Fälle von tödlicher Polizeigewalt nicht in dem Ausmaß da. Aber Diskriminierung gibt es zweifellos und Verharmlosung. Der NSU hat gezeigt, dass Polizei rassistische Gewalt ganz selbstverständlich als organisierte Ausländer-Kriminalität einordnet. Wenn Sie die Keupstraße-Initiative fragen, dann können die erzählen, mit welchen schrecklichen Methoden da ermittelt wurde. Als der NSU-Bericht des Bundes dann erschienen ist, gab es kurz eine Diskussion über strukturellen Rassismus. Die hat Sebastian Edathy (leitete bis 2014 den Bundesuntersuchungsausschuss zum NSU, Anm. d. Red.) aber abgewürgt. Sie hätte dringend geführt werden müssen. Die Polizei ist zugleich aber sehr darum bemüht, die Vielheit der Gesellschaft abzubilden. In NRW haben etwa 15 Prozent der Beamten Migrationshintergrund. Da sind sie ja durchaus vorne im Gegensatz zu anderen Institutionen.

Zur Person

Mark Terkessidis, geboren 1966, ist Migrationsforscher und freier Autor und lebt zwischen Berlin und Köln. Er studierte „Psychologie“ in Köln und promovierte über die Banalität des Rassismus. Von 1992 bis 1994 war Redakteur der 2018 eingestellten Musikzeitschrift „Spex“.

2003 bis 2011 war er Moderator bei WDR Funkhaus Europa. Beiträge zu den Themen Rassismus, Migration sowie Jugend- und Populärkultur finden sich in vielen deutschen Tageszeitungen. Zuletzt veröffentlichte er „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ (2019).

In Berlin ist gerade das umstrittene Antidiskriminierungsgesetz erlassen worden. Die einen feiern es als Errungenschaft, andere halten die Beweislastumkehr, nach der sich Behörden zu rechtfertigen haben, wenn es zu angeblichen Diskriminierungen kommt, für gefährlich. Die Polizeiverbände sehen sich unter Generalverdacht gestellt.

Manche Polizei-Vertreter bestehen sogar auf Racial Profiling... Das sollte doch sogar aus polizeilicher Sicht als sinnlos gelten, weil dieses Profiling letztlich zu Ungenauigkeit führt. Ich lerne so ja nicht zu differenzieren. Dass die Polizei im Görlitzer Park Dealer verfolgt, die eine schwarze Hautfarbe haben, kann doch nicht dazu führen, dass sie dann ständig schwarze Personen kontrolliert, die in der Gegend einen Laden haben oder ausgehen. Was ist Hautfarbe denn bitte für ein Kriterium? Wenn die Institutionen nicht von sich aus bereit sind, sich zu verändern, kann man Veränderungen nur auf gesetzlicher Ebene vorantreiben. Und wenn die Polizei sich beschwert, dass sie den Nachweis erbringen muss, nicht zu diskriminieren – das ist schon eine grenzwertige Argumentation.

Wäre eine Veränderung der Institutionen im Sinne Ihres „Interkultur“-Ansatzes, demzufolge Institutionen in ihren eigenen Reihen vielfältiger werden müssten, viel nachhaltiger als solch ein Gesetz, das die Stimmung eher noch vergiften könnte?

Ja, eigentlich meine Meinung. Ich sehe auch den polarisierenden Effekt daran. Es gibt ja auch deutliche Veränderungen, in den Kommunen läuft es viel besser, da sind die Entscheidungsträger auch nah dran und sehr pragmatisch. Nehmen wir mal Hanau, da wurde als Erstes klar gestellt: „Die Opfer sind Bürger unserer Stadt.“ Und genauso müssen wir das angehen. Aber es gibt auch Bereiche, wo wenig passiert, wie im Kulturbereich. Da haben wir die Diskussion seit mindestens 10 Jahren. Aber da ist der Strukturkonservatismus enorm.

Nun zu Ihnen. Sie haben 20 Jahre lang in Köln gelebt und pendeln mittlerweile zwischen Berlin und Köln. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Stadt beschreiben?

Ich bin der Liebe wegen nach Berlin gezogen und jetzt bin ich wohl Berliner. Ich bin aber im Rheinland aufgewachsen und habe immer noch ein sehr inniges Verhältnis zu Köln. Ich bekomme etwas weniger vom Stadtleben mit als früher, als ich noch bei Spex oder dem WDR gearbeitet habe oder Mitglied der Akademie der Künste der Welt war.

Von 2013 bis 2017 waren Sie dort Mitglied, sind aber ausgetreten, als es Kontroversen gab…

Ich bin aus Protest ausgetreten, weil ich es prinzipiell schlimm fand, dass einer Kultureinrichtung aus politischen Gründen das Geld gekürzt wird. Zudem wurde die Akademie, die ein sehr fortschrittliches und zukunftsweisendes Projekt ist, im Rahmen der Kölner Kulturinstitutionen auch davor schon ungerecht behandelt. Die Akademie sollte alles zugleich machen, internationalisieren, in Sachen Migration vorankommen, Jugendarbeit machen, aber als sie international sichtbar wurde, wurde es der Stadt zu viel Konkurrenz zum Etablierten. Im Grunde wäre man zufrieden gewesen, wenn sie ein paar nette Projekte mit Kindern mit Migrationshintergrund gemacht hätte. Da habe ich es irgendwann einfach nicht mehr ausgehalten – ich war ja auch nicht der Einzige.

Sie sind auch im Beirat des Domid (Dokumentationszentrums und Museum über die Migration in Deutschland), das in den Hallen Kalk ein Haus der Einwanderung eröffnen wird. Ein Schritt, der zu spät kommt?

Das ist eine Forderung, die man schon seit Jahren erhoben hat. Es sollte schon mal ein Einwanderungsmuseum geben und dann hat der damalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin das abgewendet und gesagt, dass ein Projekt der Sache doch besser gerecht werde. Daraus ist dann unter Beteiligung von Domid das riesige „Projekt Migration“ in Köln geworden – heute leider auch vergessen. Seitdem sind nochmal 15 Jahre vergangen. Ich freue mich darüber, weil Domid die Organisation ist, die an diesem Thema am beharrlichsten gearbeitet hat. Das Archiv hat es verdient, ein Haus zu bekommen. Es ist längst überfällig.

Was schätzen Sie denn an Köln?

Eschweiler, wo ich geboren wurde, ist ja von der Art des Umgangs her wie Köln. Es gibt immer erstmal das Verzällcher und dann kommt man zu den wichtigen Dingen. Das ist eine wahnsinnig angenehme Art der Kommunikation. Berlin ist viel härter und direkter. Für mich hat Köln etwas Heimatliches.

Was stört Sie?

Köln hat sich in den letzten 20 Jahren schon sehr provinzialisiert. Ein Freund aus der Verlagsbranche meinte neulich mal, in kultureller Hinsicht sei Köln der große Verlierer der Wiedervereinigung. Das ist schon was dran: In den frühen Neunzigerjahren haben wir hier jeden Kneipenabend mit internationalen Künstlern verbracht. Köln war mit New York einer der interessantesten Standorte für Kunst weltweit.

Wie konnte die Stadt ihre Bedeutung in der Hinsicht verlieren?

Das hat verschiedene Gründe. Irgendwann hat eine Abwanderung nach Berlin begonnen und die Stadt hat sich nicht dafür interessiert. Die Kölner interessieren sich ja auch heute nur für bestimmte Ausschnitte der eigenen Kultur. Fragen Sie mal, wer hier die modernen Kirchen St. Engelbert oder St. Getrud kennt. Was ich noch im Rahmen der Akademie machen wollte, wäre etwas über die Weiße Stadt und den Blauen Hof in Buchforst gewesen – Köln hat mit die schönsten Siedlungen der Zwanziger Jahre bundesweit. Da wäre es um die aktuellen Themen Wohnen und Migration gegangen. Es gab aber keine Resonanz – nur der Architekt spielte dann im Bauhaus-Jubiläum eine Rolle. Dann kommt noch die zunehmende Gentrifizierung hinzu. Die Räume sind sehr eng geworden für alternative Kultur. Das kommt jetzt auch auf Berlin zu, da gehen auch die ersten weg. Ich befürchte, dort begreift man es genauso wenig wie in Köln. Einfach traurig. 

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