Interview zu Corona„Zero Covid ist allenfalls in einer Diktatur wie China möglich“

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Coronavirus_Beschraenkungen

Der Psychologe Stephan Grünewald fordert klarere Vorgaben für die Bürger im Coronavirus-Lockdown. 

  • Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald fordert klare Vorgaben für die Bürger.

Herr Grünewald, Sie gehören dem Corona-Expertenrat der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen an. In seiner jüngsten Stellungnahme schlägt das Gremium Alarm. Die Politik laufe Gefahr, die Bevölkerung nicht mehr zu erreichen und zu überzeugen. Worauf stützen Sie diese Warnung? Stephan Grünewald: Wir haben es in der Pandemiebekämpfung mit drei bestimmenden Faktoren zu tun. Da ist zum einen das Virus selbst, das gerade clever genug ist, zu mutieren. Dann gibt es zum zweiten den Lauf der Jahreszeiten mit dem Winter, der dem Virus in die Hände spielt. Und es gibt drittens den Faktor Mensch. Den haben wir in einer Studie näher beleuchtet und festgestellt: Die Leute sind ganz anders drauf als im ersten Lockdown.

Was hat sich verändert?

Im Frühjahr 2020 war die Stimmung beherrscht von Angst und einem diffusen Grauen, weshalb sich die meisten sehr vorsichtig, mitunter fast panisch verhalten haben. Mittlerweile hat sich eine Art Corona-Routine eingestellt. Man glaubt, Erfahrungen mit dem Virus zu haben. Medikamente und Impfstoffe wirken angstbeschwichtigend. Und die Statistiken weisen besonders die Senioren als gefährdet aus, was alle anderen vordergründig in Sicherheit wiegt. Aber mehr als 30 000 Neuinfektionen oder 1000 Tote täglich haben wir erst seit Dezember zu verzeichnen. Anfangs haben die Menschen alle verfügbaren Neuigkeiten über die Entwicklung der Pandemie regelrecht aufgesogen. Es gab die schrecklichen Bilder aus Bergamo mit den gestapelten Särgen. Jetzt laufen die Corona-Nachrichten eher nebenher. Und nackte Zahlen haben leider den Nachteil, dass man sich schnell an sie gewöhnt. Im persönlichen Leben haben die meisten unterdessen ihre Corona-Schlupflöcher gefunden und Grauzonen eingerichtet. Wie in der Schattenwirtschaft der früheren DDR ist in der Pandemie ein Schatten-Alltag entstanden, in dem man sich Auszeiten von den Corona-Regeln gönnt.

Zur Person

Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er schreibt auf ksta.de aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen.

Das heißt, noch strengere Auflagen sind eher wirkungslos?

Hier sehe ich tatsächlich ein großes Dilemma. Auf der einen Seite vermissen die Bürger bei aller Regeltreue die Erfolgserlebnisse. Anders als im Frühjahr, sind die Infektionszahlen im zweiten Lockdown kaum gesunken. Das schürt zunehmend eine resignative Stimmung, in der das politische Narrativ, „jetzt noch zwei Wochen aushalten, und dann sind wir durch“, umso vergeblicher und ermüdender wirkt. Auf der anderen Seite stellen die Leute fest: Nicht einmal die schon bestehenden Regeln werden kontrolliert und sanktioniert.

Die Regel-Verweigerung der anderen untergräbt die eigene Disziplin und führt zu einer fortschreitenden Corona-Korrosion. Was folgern Sie daraus?

Die Vorgaben müssen klar verständlich und nachvollziehbar sein. Bei der Kontaktregel mit nur einer Person zum Beispiel steigen viele aus. Ein älteres Ehepaar darf die alleinstehende Nachbarin bei sich zuhause empfangen. Die Gegeneinladung ist untersagt, weil der Besuch zu zweit kommt. Das versteht doch keiner. Vor allem aber plädiere ich dafür, nicht ständig schärfere Maßnahmen zu ergreifen, sondern lieber die bestehenden durchzusetzen. Im Markus-Söder-Land, dem angeblich so hart geführten Freistaat Bayern, haben die Behörden es ein Vierteljahr lang nicht geschafft, auch nur einen einzigen Bußgeldbescheid wegen Verstößen gegen Corona-Auflagen zuzustellen.

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Stephan Grünewald, Leiter des Kölner Rheingold Instituts

Härte zahlt sich also nur aus, wenn sie nicht bloß Rhetorik oder Symbolik ist.

Ein bestimmter Ruf nach Härte macht mir im Moment die meisten Sorgen, nämlich die „Zero Covid“-Kampagne...

... die mit einem Komplett-Shutdown die Infektionszahl auf Null drücken will, um das gesellschaftliche Leben danach wieder hochfahren zu können.

Auf den ersten Blick eine faszinierenden Erlösungsidee, ein absoluter Wunschtraum, der jedoch zum Daueralbtraum werden könnte. Die Idee beruht auf drei Annahmen: dem völligen Herunterfahren des Soziallebens und der Wirtschaft, der kompletten Abschottung der Länder und Regionen und einer gnadenlosen Konkurrenz zwischen ihnen mit der Aussicht, dass diejenigen wieder lockern dürfen, die die Null-Grenze erreicht haben. Wenn ich das zu Ende denke, wird mir mulmig. Wir erleben ja derzeit, dass wir in den Wintermonaten trotz partiellem Lockdown die Infektionszahlen kaum unter 100 bringen können. Ein Komplett-Shutdown würde die seelischen und sozialen Schäden noch verstärken.

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Und am Ende hätten wir dann vielleicht doch nur eine Sieben-Tage-Inzidenz von 40 erreicht.

Dann würde der Ruf nach weiteren Verlängerungen des Shutdowns bleiben. Eine totale Abschottung ist für ein Land im Herzen Europas dauerhaft unmöglich. Und die Konkurrenz der Regionen könnte zu einer Hexenjagd auf alle führen, die das Virus reimportieren könnten. Ein kurzer Komplett-Shutdown kann sinnvoll sein, um die Zahlen deutlich zu senken, aber das Virus wird sich nicht „auf Null bringen“ lassen. Als Psychologe hege ich eine grundsätzliche Skepsis gegen das Narrativ eines Endsiegs über das Virus. Ein solcher „Sieg“ ist allenfalls temporär auf einem isolierten Kontinent wie Australien oder in einer Diktatur wie China möglich. Wenn wir mit dem Virus leben müssen, dass brauchen wir eine differenzierte Langfrist-Strategie, die auf viel genaueren Erkenntnissen darüber basiert, wo man sich ansteckt und die dann auch konsequent umgesetzt wird.

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