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Psychotherapeut im InterviewWarum es gut ist, an Karneval jeck zu sein

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Zehntausende feiern in Köln wieder Karneval.

Köln – „Mer Kölsche danze us d’r Reih“ lautet das aktuelle Sessionsmotto. Dieses Anderssein finden nicht wenige Menschen im Rest der Republik seltsam. Sie halten die Kölner für jeck. Deren Antwort: „Richtig, aber nur Karneval. Und das ist auch gut so.“ Stimmt das? Darf man aus der Reihe tanzen? Sollte man es sogar? Fragen an Dr. Hellfried Krusche, Psychotherapeut und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Junkersdorf.

Wie gefällt Ihnen das Sessionsmotto?

Das Motto ist total passend für die Kölner. Sie haben eine lange Geschichte des „Aus-der-Reihe-tanzen“. Das zeigte sich zum Beispiel am Widerstand gegen die Franzosen und gegen die Preußen. Es ist eine Spezialität der Kölner, sich humorvoll mit einer disziplinarischen Maßnahme auseinanderzusetzen. Das Motto drückt den Charme des Kölners aus, sich der Obrigkeit mit einer gewissen Leichtigkeit zu entziehen.

Sind Sie Kölner?

Nein, ich bin ein Imi. Ich komme aus Aachen, lebe und arbeite seit 40 Jahren in Köln, habe hier studiert. Aber Kölner wird man ja erst mit der Geburt oder Wiedergeburt.

Was heißt das eigentlich, aus der Reihe tanzen?

Schauen wir uns zunächst das Gegenteil an: In der Reihe sein heißt, man muss sich disziplinieren, sich anpassen, sich einfügen. Etwas mit sich machen zu lassen, sich zu unterwerfen. Genau das widerstrebt dem Kölner. Wenn ich in der Reihe bin, muss ich mich selber zurücknehmen, auf die Reihe achten. Der Mensch ist aber kein Reihenwesen, er ist ein Individuum. Er braucht Spontaneität und Lebendigkeit. Etwas, was sich gut im Tanz umsetzen lässt.

Wieso?

Tanzen heißt, dass ich in einer Sache, die mich betrifft, bei mir bin und zugleich in Kontakt mit anderen trete. Der Tanz widerspricht an sich dem in der Reihe sein. Bei den alten Tänzen des 18./19. Jahrhunderts ging es streng nach Reih’ und Glied und zugleich zulasten der eigenen Individualität.

Ist es wichtig, mal aus der Reihe zu tanzen?

Unbedingt. Beim Tanzen kann ich meinen Impulsen folgen. Der Karneval ist eine wunderbare Möglichkeit, diese Impulse, die in uns allen sind, freizugeben, ihnen Raum zu geben. Das ist eine Kultur, die gibt es so in anderen Lebensbereichen kaum. Es gehört zu einer gesunden Psyche dazu, ausgelassen Karneval feiern zu können. Das ist tatsächlich ein Zeichen von Gesundheit.

Ist Karneval eine Art Therapie?

Ja, schon. Ein Kollege sagte mir einmal: Wer Karneval nicht jeck sein kann, der ist das ganze Jahr über jeck. Im Karneval ist es möglich, die strengen inneren Strukturen, mit denen wir alle zu tun haben, aufzubrechen. Wir haben alle ein sogenanntes „Über-Ich“, so nennt man das.

Was ist das?

Das sind Normen, die sich verfestigt haben, die im Individuum ständig arbeiten. Sie zwingen uns dazu, diszipliniert zu sein und unsere Impulse zu kontrollieren. Es ist ganz wichtig, eine Zeit zu haben, in der das gelockert wird und dieses sogenannte Gewissen elastisch sein kann. Karneval ermöglicht es uns, unsere eigenen Gesetze in Frage zu stellen. Um danach wieder geläutert zur Vernunft zurückzukehren.

Es darf aus der Reihe getanzt werden, aber in einem zeitlich begrenzten Rahmen?

Exakt. Wir brauchen natürlich Strukturen und Halt. In der Reihe sein, bedeutet, ich lehne mich an und werde gehalten. Die Reihe bietet Schutz, Rückhalt und Sicherheit.

Warum also die Schutz- und Komfortzone verlassen?

Immer in der Reihe sein, macht uns krank. Ich glaube, dass es für uns extrem wichtig ist, wenigstens einmal im Jahr die ganzen Schranken und Behinderungen, die uns die Gesellschaft mittlerweile auferlegt, hinter sich zu lassen und für eine gewisse Zeit sich selber frei zu entfalten und seinen Wünschen und Sehnsüchten Ausdruck zu verleihen. Und dann in die Reihe zurückzukehren, wohl wissend, man kann auch anders. Es ist ein großes Glück, dass der Karneval diesen Freiraum bietet.

Menschen wollen zu einer Gruppe gehören, andererseits will man einzigartig sein. Wie passt das zusammen?

Das ist die Kunst, die Balance zu finden. So wie im Tanz. Der Karneval ist ein Teil des Lebenstanzes. Im Grunde kann das ganze Leben als Tanz betrachtet werden. Es gibt ein Standbein, das uns Sicherheit gibt. Und es gibt ein Spielbein. Man muss immer ein Bein haben, das fest auf dem Boden steht, das andere kann sich bewegen.

Was raten Sie jemandem, der aus der Reihe möchte, aber sich nicht so recht traut?

Nachsicht üben mit sich selber. Sich Dinge erlauben, die man sich normalerweise so nicht gestatten würde. Der Karneval regt dazu an, mal etwas Verrücktes zu machen, sich neben sich zu stellen und über die Schulter zu schauen. Es ist zutiefst human, unseren Trieben einen gewissen Auslauf zu gestatten. Sich individuell zu kostümieren, ist ebenfalls eine tolle Sache.

Feiern Sie Karneval?

Ja natürlich. Dieses Jahr bin ich allerdings in der heißen Phase nicht ständig in Köln, tanzen werde ich aber dennoch.

Was schätzen Sie am Karneval?

Die Lust am Lebendigen, am Improvisieren und an der Lebensfreude.

Was sagen Sie zum Schunkeln? Ein Tanz, der ganz eindeutig aus der Reihe fällt. Schon allein deshalb, weil man ihn auch im Sitzen tanzen kann.

Das Schunkeln ist eine sehr intensive Form des Kontaktes zum Nebenmann und zur Nebenfrau. Man spürt den Körper des anderen ganz unmittelbar.

Das muss man mögen.

Gewiss. Schunkeln macht es dem Einzelnen leichter, aus der Reihe zu tanzen. Man verlässt als Gruppe, als Gemeinschaft die Reihe und ist ganz rasch, oft nach einem Lied, wieder ganz bei sich.

Wie wichtig ist Lachen und Fröhlichkeit?

Humor und Karneval sind Kulturleistungen. Nur kultivierte Menschen haben Humor.

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