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Seit mehr als 60 JahrenDieser Mann organisiert den kleinsten Karnevalszug der Welt

Lesezeit 6 Minuten
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Helmut Scherer, Solo-Karnevalist, im Jahr 2010

  • Seit 1956 organisiert Helmut Scherer, 84 Jahre alt, in Unna den kleinsten Karnevalszug der Welt.
  • Durch seine hartnäckige Karnevalsbegeisterung wurde Scherer weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.
  • Scherer wartet auf eine Einladung aus Köln: Er würde gerne mal in einer Gruppe mitgehen.

Köln – Die Frage muss erlaubt sein, während Helmut Scherer sich parat macht. Was ist er denn nun, dieser 84 Jahre alte Herr, der mehr als ein halbes Jahrhundert lang an Weiberfastnacht mit seinem Bollerwagen in der westfälischen Kleinstadt Unna den kleinsten Karnevalszug der Welt organisiert hat. Ein Narr? Ein Jeck? Oder einfach nur verrückt?

In Unna!   Eine Gegend, für die aus dem Blickwinkel eines Rheinländers der Begriff Karnevalsdiaspora ein Kompliment ist. Unna. Das ist Sahelzone des Fastelovend.  Und  Scherer ihr Wüstensohn, der Jahr für Jahr unverdrossen loszieht und hofft, dass wenigstens eines seiner Narrenpflänzchen der vergangenen Session überlebt hat.

„Helmut geht ins Altersglück, Unna bleibt zurück“

Der Wüstensohn lächelt verschmitzt, fixiert die  durch Hunderte Umzüge abgewetzte Stoffpuppe „Helmuto“ mit weißem Gummiband an seiner  Trumm, die in Westfalen Pauke heißt, setzt  die  selbst entworfene Narrenkappe, die er jedes Jahr an neue Ordensritter verleiht, auf den Kopf und kämpft mit einem Hawaii-Kettchen, das sich in den  Narrenkappenfedern verfangen hat. Das mit dem Überleben ist so eine Sache. Vor acht Jahren hatte Scherer sich schon verabschiedet – nach 55 kleinsten Weiberfastnachtszügen der Welt – seinen Bollerwagen eingemottet.

Zu schwer war der ihm geworden. Mit der ganzen Last, die daran hing. Sein letztes Motto: „Helmut geht ins Altersglück, Unna bleibt zurück.“ Das war glatt gelogen. Denn  Scherer hat gleich weitergemacht. Nur etwas anders. Er organisiert seither an Weiberfastnacht  einen Kinderzug durch Unna, der im vergangenen Jahr auf 900 Teilnehmer angewachsen ist. Das Motto für dieses Jahr: „Kinder brauchen Platz, sonst machen wir Rabatz!“

Aufgewachsen im Klosterinternat

Nein. Helmut Scherer ist weder Jeck noch Narr noch verrückt. Er ist von allem etwas. Aber vor allem jemand, der sich seinen Lebenstraum erfüllt und einen Dreck darum geschert hat,  ob andere sich das Maul über ihn zerreißen könnten.

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Und wenn der Lebenstraum nun einmal Karneval heißt, darf es keine Rolle spielen, wenn das Leben einen aus dem katholischen und damit karnevalistischen Paderborn ins evangelische Unna verschlägt, weil man dort am Katharinenhospital  als Hausmeister Arbeit gefunden hat. „Ich bin einem Klosterinternat aufgewachsen. Dort habe ich schon als Kind miterleben dürfen, wie ausgelassen die Nonnen Karneval feiern.“

Erster Umzug im Jahr 1956

Karneval in Köln leben – das könne schließlich jeder, sagt Scherer. In Unna hingegen hat es allein sieben Jahre gebraucht, bis sie von Scherer samt Bollerwagen überhaupt Notiz genommen und ihn immerhin als  Spinner bezeichnet haben, der Köln nach Unna holen will. Davor war tote Hose, null Reaktion. Scherer kann sich noch sehr gut  an den ersten Umzug erinnern.

Der war am 11. 11. 1956. Ein Sonntag. Ein Mann, sein Karnevalskarren und sonst nichts. „Mir war das egal. Ich habe das Weiberfastnacht 1957 erneut versucht. Und ab dann immer wieder.“ Bis sie ihn irgendwann schließlich reingelassen haben ins Rathaus. Irgendwann.

Alles in einer Person

„Mich hat die Stadt erst ernst genommen, als die Zeitungen auf mich aufmerksam wurden“, sagt Scherer.  „Ich habe immer die Hoffnung gehabt, eines Tages ernte ich die Früchte. Und das ist auch eingetreten.“ Seither hat er an den Karnevalstagen das Kommando, wird von den Honoratioren der Kreisstadt empfangen. Kein Wunder. Ist er doch alles in einer Person: Präsident, Prinz, Dreigestirn, Mottokönig und Zugleiter.

Scherer hat sehr viel dafür getan, um bekannter zu werden, ist in Düsseldorf im Rosenmontagszug mitgelaufen, nachdem er sich mehr oder weniger selbst eingeladen hatte. Das war der Türöffner für viele weitere Züge in Münster und Menden, Ahlen und Beckum, Hagen und Dortmund. Nur auf eine Einladung aus Köln wartet er bisher vergeblich. „Da würde ich schon gern mal mitgehen. Aber in einer Gruppe. Sonst käme ich mir irgendwie verloren vor. Ich weiß nicht, warum die mich nicht wollen.  “

„Helmut Scherer, deutscher Karnevalist“

Irgendwann hat sich das Fernsehen auf ihn gestürzt. Scherer war zu Gast bei Bernd Stelter, der übrigens aus Unna stammt, bei Jürgen von der Lippe, Stefan Raab und Johannes B. Kerner und ist längst einer der bekanntesten Werbeträger seiner Stadt. Er hat inzwischen einen dreiseitigen Eintrag bei Wikipedia – unter dem Stichwort: „Helmut Scherer, deutscher Karnevalist.“

Das mache ihn schon ein wenig stolz, sagt er, sei aber kein Selbstzweck. „Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt.“ Es gehe ihm einzig und allein um den Karneval, für ihn ein Dreiklang aus „Humor, Menschlichkeit und gut zuhören zu können“.  Und der vor allem auf der Straße stattfindet, „wo die Menschen auch ohne viel Geld feiern und fröhlich sein können“.

„Ich komme als Geist und bringe die anderen Geister mit“

Es sei die Gemeinschaft, das gemeinsame Lachen und der Humor, das Nichtorganisierte, das den Karneval ausmache, sagt er.  Scherer ist ein durch und durch bescheidener Mensch. Alles in seiner Einraumwohnung am Katharinenhospital hat irgendwie mit Karneval zu tun. Die Pauke, die Orden, die kleine Karnevalsfigur, die ihm ein Künstler zu seinem 80.  Geburtstag geschenkt hat und  ihn im schwarzen Anzug mit seinem berühmten Bollerwagen zeigt.

Doch was wird aus dem Karneval in Unna, wenn er mal nicht mehr ist? Mit 84 Jahren ist Scherer  auf den letzten Zugmetern seines Lebens angekommen.  „Das haben mich schon viele Leute gefragt. Ich antworte dann immer, dass ich als Geist komme und die anderen Geister vom Friedhof alle mitbringe.“ Er habe die Befürchtung, dass der Karneval in Unna eingeht, „wenn ich mal nicht mehr da bin“.

Nachfolge unklar

Doch noch lebt Scherer ja und hat schon Vorkehrungen getroffen für die Zeit danach. Als der einzige und letzte Karnevalsverein der Stadt  seine Tätigkeit vor ein paar Jahren wegen Mitgliedermangels einstellte , hat er einen neuen aus der Taufe gehoben. Praktischerweise heißt der einfach „Karnevalsverein Unna“ und besteht in erster Linie aus wohlsituierten Bürgern, die mit Spenden das Brauchtum am Leben erhalten.

Das wäre also schon mal gesichert. Doch ob sich für den kleinsten Karnevalszug der Welt ein Nachfolger findet? „Ich weiß es nicht“, sagt Helmut Scherer. Immerhin hat ihn die Lokalzeitung, der „Hellweger Anzeiger“,  dazu gebracht, 2019 den Zug nach acht Jahren Unterbrechung wiederaufleben zu lassen. Allerdings nicht an Weiberfastnacht, weil Scherer da ja schon den Kinderumzug organisiert, sondern am Rosenmontag.

Da wird Helmut Scherer mit „Helmuto“ und der Pauke, begleitet von einem Musikwagen, eine Stunde durch die Innenstadt ziehen, vor den Geschäften anhalten und mit den Inhabern Sekt und Schnaps ausschenken.  Den Bollerwagen wird er nicht reaktivieren. Karneval sei auch Veränderung. Man müsse mit der Zeit gehen, aber die Seele des Karnevals werde immer gleich bleiben. „Egal, wie alt man ist. Einmal im Jahr so richtig austoben, auf die Pauke hauen, das Leben durch den Kakao ziehen.“ In Unna ganz neu und ab sofort mit dem kleinsten Rosenmontagszug der Welt.

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