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KneipenwirtinNur Wundern kommt hier nicht in die Tüte

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Rosy Hagemeier an der kupferverkleideten Theke der Sülzer Wundertüten-Ausgabe

Rosy Hagemeier an der kupferverkleideten Theke der Sülzer Wundertüten-Ausgabe

Sülz/Südstadt – Die eigene Kneipe war nicht ihr Traum, auch nicht ihre Rettung. Sie war ganz einfach ihr Schicksal, 40 Jahre lang. So alt wird die "Wundertüte" dieses Jahr. Fast ebenso lange ist Wirtin Rosy Hagemeier ihr gutes Herz.

Die Wirtin mit dem rauen Charme und die Kneipe mit dem gemütlichen Spelunkenlook sind in die Jahre gekommen und mittlerweile am beschaulichen De-Noel-Platz in Sülz zu Hause. Die Wundertüte im kleinen Ecklokal, ihre Wirtin in der Wohnung darüber.

„Er meinte, das wäre auch ein Ort für mich.“

Sie gerieten zufällig zusammen, in den 1970er Jahren. "Ich habe beim Kommunisten-Griechen in der Krefelder Straße gekellnert", erzählt Hagemeier. "Eigentlich hieß er Diogenes." Der Spitzname war den politischen Ansichten des Wirts geschuldet, die sie und ihre Freunde teilten.

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Sie waren jung, rebellisch und voller Tatendrang. Es herrschte Aufbruchstimmung - musikalisch und in der Kölner Kneipenszene. "Ein Bekannter hat mir erzählt, dass da eine neue coole Kneipe aufgemacht hat, die Wundertüte. 1978. Er meinte, das wäre auch ein Ort für mich."

Hagemeier heuerte in der angesagten Location an, Adresse Pfälzerstraße im aufstrebenden Szeneviertel, der Südstadt, wo kölsche Künstler und Musiker von sich reden machten. Hagemeier sang und spielte selbst Schlagzeug in einer Punkband namens K 41, "benannt nach einem damaligen Kommissariat bei der Polizei".

Berührungspunkte mit bekannten Künstlern

Es gab Berührungspunkte mit bekannten Größen. "Irgendwann fragte mich Major H, ob ich bei BAP als Backgroundsängerin mitmachen wollte, aber ich habe mich nicht getraut", berichtet Hagemeier.

Nur wenig Bedauern schwingt mit in der Stimme, die mittlerweile ebenso viel Patina angesetzt hat wie die kupferne Thekenfassung, die sie aus dem alten Lokal an der Pfälzer Straße mitgenommen hat. Verpasste Chancen gab es viele. Hagemeier hatte Pläne. Wirtin zu werden, gehörte nicht dazu. "Eigentlich wollte ich irgendwann einmal Psychologie studieren", sagt sie.

Doch schon eine Ausbildung zu absolvieren, war kompliziert. Der Tod einer Freundin, ihre politische Einstellung, die Teilnahme an einer Demo, Ärger mit der Bank. Mehrere Ausbildungen, die sie begann, endeten aus unterschiedlichen Gründen vorzeitig. Die Wundertüte blieb eine feste Konstante und nahm immer mehr Raum im Leben von Hagemeier ein.

Zum Namen gibt es ein orginelles Programm

Zunächst wurde sie Mitinhaberin, später übernahm sie das Lokal ganz und lieferte ein zum Namen passendes originelles Programm: Als der alte Bierliefervertrag auslief, standen vier Kölschsorten zur Auswahl, Reissdorf, Sion, Gaffel und Kurfürsten. "Ich habe dann entschieden, dass für jedes Kölsch jemand mit einer Rede werben musste", erinnert sich Hagemeier. Am Ende gewann Gaffel, das sie heute noch ausschenkt. Die kneipeneigene "Wundersitzung" war fester Programmpunkt im Südstadtkarneval.

Besonders gerne erinnert sie sich an eine Modenschau. "Als meine Nachbarin Frau Hoffmann starb, brachte ihr Neffe ihre Schuhe und Klamotten zu einem Müllcontainer" - wo Hagemeier sie gleich wieder einsammelte. "Frau Hoffmann hatte einen Schuhtick und die ganzen 70er-Jahre-Modelle teilweise in mehreren Farben, dazu die passende schräge Kleidung." Hagemeier baute in der Kneipe einen Laufsteg auf. Vier Männer warfen sich in die alten Klamotten und führten sie zum Entzücken der Gäste vor.

1993 gab es ein Feuer

Es gab schwere Zeiten. 1993 brannte eines Nachts ihre Kneipe ab. Die Wirtin war mittlerweile alleinerziehende Mutter eines Säuglings, als sich ihre Existenz in Rauchschwaden auflöste. "Es war ein Schwelbrand. Wir sind fast erstickt." Hagemeier war ins Bett gegangen, die Kellnerin noch mit zwei Gästen im Lokal. "Wer die glühende Kippe in den Abfall geworfen hat, ließ sich nicht mehr klären." Rosy Hagemeier stand da, mit Baby Rosa-Nina, benannt nach Rosa Luxemburg und Nina Hagen - und ohne Wundertüte. Sie löste ihre Lebensversicherungen und baute mit dem Geld die Wundertüte wieder auf.

Als 2007 Gesetze Kneipenbesuchern verboten, in Lokalen zu rauchen, in denen Essen serviert wird, entschied sich die Wirtin zu einem weiteren Schritt. Sie eröffnete neben ihrem Lokal einen Imbiss namens "Ponderosa" und trennte Essen und Rauchen. Kaum lief der Betrieb, kündigte ihr Vermieter das Lokal, später auch die Wohnung. Die tatkräftige Frau hatte viel Geld in den Imbiss investiert, nun wusste sie nicht mehr weiter.

Andere Wirte halfen. Sie tingelte durch die Kneipen, hatte Arbeit überall und nirgendwo. "Ich habe im Alcazar, in der Ubierschänke, imm Spielplatz und im Fertig gekellnert, jeden Tag woanders", erzählt sie. Irgendwann meldete sich Gaffel mit einer freudigen Nachricht. Die Brauerei hatte ein Lokal für sie und die Wundertüte gefunden.

Bunter Mix der Besucher

Hagemeier zog an den De-Noel-Platz mit der alten Kupfertheke und ihrem individuellen Einrichtungsstil. Von der Decke baumelt, was die Wirtin so in ihrem Keller entdeckt. Mal sind es alte Regenschirme, dann aussortierte Kopfkissen und Bettdecken. Die vergessene CD-Sammlung eines befreundeten Blues-Fans dreht sich als Mobile in jedem Windstoß, der durch die Tür hereindringt. Daneben hängen auch noch ein paar grüngelbe Wildlederstiefel von Frau Hoffmann.

Ein ebenso bunter Mix sind die Besucher. Alte Stammgäste hocken neben Studenten und jung gebliebenen Viertelsbewohnern, die sich freuen, dass ein Südstadt-Kultlokal mit seinen Veranstaltungen in Sülz zu Hause ist. Konzerte, der Sülzer Mitsingabend und die Offene Bühne "Trau dich Feigling" locken regelmäßig viele Gäste an. Und bald gibt es auch noch eine Gruppe, für die, die nie so richtig in eine passen. Der "Zickentreff" setzt sich aus dem weiblichen Treibgut zusammen, das an Hagemeiers Theke strandet, ein offenes Ohr bei der Wirtin sucht und mit ihr über verpasste Chancen und das Schicksal plaudert.

www.wundertuete.koeln

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