Erste-Hilfe-App für Köln?Mobile Retter sind doppelt so schnell wie ein Rettungswagen

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Michael Eckert rettete Gabriele Schürmann das Leben, nachdem sie einen Herzkreislaufstillstand hatte.

Michael Eckert rettete Gabriele Schürmann das Leben, nachdem sie einen Herzkreislaufstillstand hatte.

  • Ein Sanitäter braucht im Schnitt neun Minuten. Die Überlebenschancen bei einem Herzstillstand sind dann oft nur noch gering.
  • Apps sollen die Rettung doppelt so schnell machen, kosten aber auch Geld.
  • Eine Reportage zum europäischen Tag des Notrufs.

Köln – Eigentlich hatte Michael Eckert an diesem Wintertag vor fast genau zwei Jahren nicht mehr vor, noch Großes zu leisten. Eckert, ein Mann mittleren Alters, die Haare schon grau, kommt gerade von der Arbeit. Er ist Lehrer in Bielefeld, er will nach Hause, nach Halle in Westfalen. Es ist der eine Tag in der Woche, an dem er mit dem Auto fährt. Sonst immer Zug, sagt er. Weil er noch schnell einkaufen will, fährt er ab, in Steinhagen, einer kleinen Gemeinde an der Autobahn 33, Kreis Gütersloh. Dann hört Eckert diesen Ton aus seiner Tasche, schrill wie eine Sirene. Er weiß sofort, was los ist. Klassische Konditionierung, sagt Eckert. Rechts ran, Smartphone raus, Pin eingeben. „Alarm“ steht auf dem Display, eine Karte öffnet sich, eine Route darauf. Eckert, auch ehrenamtlicher Rettungssanitäter, lässt sich vom Handy führen. Vier Minuten braucht er. Und dann liegt dort eine Frau auf der Straße und atmet nicht mehr.

Gabriele Schürmann, 61 Jahre alt, Kurzhaarschnitt, wollte nur spazieren gehen. Sie schlendert ziellos an den Geschäften vorbei, vor einem Schaufenster bleibt sie stehen. Ihr wird schummerig. In der vergangenen Woche war sie noch beim Kardiologen, Routine-Untersuchung, es war alles in Ordnung. Ein Aortenaneurysma, die Aussackung der Hauptschlagader, wird Schürmann später lernen, erkennt man nur sehr selten früh genug. Es geht nicht mehr, sie will sich auf eine Treppe setzen. Dann wird sie bewusstlos. Eine Passantin wählt den Notruf, beginnt mit der Herzdruckmassage. Die Kapazitäten im Raum Gütersloh sind zu diesem Zeitpunkt ausgereizt, der Notarzt muss aus Bielefeld kommen. 13 Minuten braucht er. Schürmanns nächste Erinnerung: das Krankenhausbett.

Notarzt kann kaum schneller werden

Ein Herzkreislaufstillstand ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Mehr als 50 000 Menschen brechen jedes Jahr zusammen, weil ihre Blutzirkulation stoppt, ihr Herz das Schlagen aufgibt. Nur jeder Zehnte überlebt. In Nordrhein-Westfalen allein starben 2016 laut Landeszahlen 8964 Menschen an einem Herzinfarkt. Mit jeder Minute, in der die betroffene Person keine Hilfe bekommt, sinkt die Überlebenschance um etwa zehn Prozent, sagt das Bundesministerium für Gesundheit. Ein Rettungswagen braucht in Deutschland durchschnittlich neun Minuten.

Schneller geht es kaum, sagen Experten, etwa von der Björn-Steiger-Stiftung (BSS), die vor 46 Jahren maßgeblich zur Einführung der zentralen Notrufnummern 110 und 112 beitrug. Die Rettungskette seitens der Krankenhäuser ist durchoptimiert. Will man mehr Menschen retten, dann geht das nur noch mit unmittelbarer Hilfe vor Ort. Doch allein 34 Prozent der Laien-Ersthelfer trauen sich laut Umfragen gar nicht, mit der Reanimation zu beginnen, bevor ein Notarzt da ist. Im Europa-weiten Vergleich liegt die Zahl im unteren Drittel.

Mangel befürchtet

300000 Menschen in NRW haben 2018 einen Erste-Hilfe-Kurs beim Deutschen Roten Kreuz gemacht – weniger als zwei Prozent der Landesbevölkerung, Auffrischungen eingerechnet. Mittlerweile bietet das DRK per App die wichtigsten Schritte der Ersten Hilfe verständlich an.

Die Johanniter fürchten einen erheblichen Mangel an professionellen Rettungskräften in NRW, weil 2014 der Beruf des Notfallsanitäters geschaffen wurde. Rettungssanitäter können bis Ende 2020 zwar eine Zusatzqualifikation erwerben. Zahlreiche Krankenkassen, so die Johanniter, würden die Lehrgänge aber nicht zahlen. (jl)

Es dauerte sechs Minuten und über 500 Stöße auf Schürmanns Brust, sagt Eckert, dann war sie wieder ansprechbar. Klar, Zufall, sagt Eckert, dass er an diesem Tag mit dem Auto unterwegs war und dann noch gerade an diesem Ort, als Frau Schürmann zusammensackte. Aber kein Zufall, dass er davon mitbekam.

Zeitgemäße Lebensrettung

Eckert ist einer von knapp 5300 sogenannten Mobilen Rettern. Ehrenamtler, die qualifizierte Erste Hilfe leisten können und sich zusammengetan haben. Ärzte, Rettungsdienstmitarbeiter, Feuerwehrleute, Krankenpfleger, Sanitäter, Einsatzhelfer oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Sie sind Teil eines Projekts, das Lebensrettung zeitgemäß machen soll.

Funktioniert so: Jeder Mobile Retter hat eine App auf seinem Handy. Wenn ein Notruf bei einer Leitstelle eingeht, schickt diese auch eine Benachrichtigung an das Netzwerk der App hinaus. Die sucht ganz automatisch, per GPS-Daten, registrierte und gerade aktive Mobile Retter in der Nähe des Unfallorts. Dann wird ein Alarm auf das Gerät geschickt. In der Regel werden drei potenzielle Ersthelfer benachrichtigt. Lehnt einer den Notfall dennoch ab, weil er vielleicht gerade auf der Arbeit ist und nicht wegkann, sucht das System automatisch weiter. Im Schnitt braucht ein Mobiler Retter viereinhalb Minuten zum Notfall-Ort, das ergab eine Evaluation des Vereins, den es seit 2014 gibt und der seit Montag nun Teil der BSS ist. Also nur halb so lange wie ein Rettungswagen. Macht, wenn sonst niemand hilft, theoretisch eine doppelt so hohe Überlebenschance. Bisher arbeiten die Mobilen Retter in zehn Regionen, in Nordrhein-Westfalen etwa in Kleve, Unna und Gütersloh, wo die Idee herkommt. In Bielefeld und Essen befinden sich Leitstellen im Aufbau.

„Natürlich ist es auch wichtig“, sagt Eckert, „dass auch nicht ausgebildete Leute Erste Hilfe leisten.“ Die Mobilen Retter wollen kein Ersatz und keine Ausrede sein, weder für Laien noch für Notärzte. Sie wollen ergänzen.

2000 Einsätze bundesweit

Eckert hatte bislang 30 Einsätze, seit er 2014, kurz nach der Einführung, Mobiler Retter wurde. Im vergangenen Jahr waren es für alle Ehrenamtler des Projektes bundesweit 2000. „Wir glauben, wir könnten 10 000 Menschenleben im Jahr retten, wenn es das System flächendeckend gäbe“, sagt Stefan Schmitgen, 2. Vorsitzender des Vereins. Zusammen mit der BSS fordert er eine bundesweite Ausdehnung.

Rettungsdienste allerdings werden durch Landesgesetze geregelt. „Laut Grundgesetz sind alle Menschen gleich. Im Rettungswesen ist das leider nicht der Fall“, sagt Stiftungsvorsitzender Pierre-Enric Steiger. Über die Einführung von Ersthelfer-Apps wie Mobile Retter oder „Corhelp3r“ entscheiden im Moment sogar noch die Kommunen.

Denn sie zahlen auch. 10 bis 15 Cent pro Einwohner kostet die Unterhaltung des Systems im Schnitt jährlich. Für Köln wären das also gut 150 000 Euro. Aus den bisherigen Gesprächen, heißt es von Seiten des Vereins, sei allerdings noch nichts geworden.

Nachdem Frau Schürmann, heute 63 Jahre alt, in der Klinik aufwachte, ging alles schnell, sagt sie. Die OP, zwei Wochen im Herzzentrum, dann Reha. Mittlerweile geht sie wieder spazieren. Eckert sah sie erst nach einem Jahr wieder, der Verein hatte vermittelt. Hat ihr gutgetan, findet sie. Jetzt weiß sie immerhin, wer rechtzeitig für sie da war.

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