Abo

Bis zu 800 Stricher arbeiten in KölnWarum Sex ohne Kondom oft die Regel ist

Lesezeit 9 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Szene mit einem Stricher aus dem Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”

  • Für unsere Serie „Köln im Rotlicht“ sind unsere Reporter in die Rotlicht-Szene eingetaucht, haben mit Prostituierten, Freiern, Zuhältern und Bordellchefs gesprochen.
  • In Folge 15: Geschätzt 600 bis 800 Stricher bieten in Köln ihren Körper an – oft zu gefährlichen Bedingungen.
  • Der Verein Looks ist Anlaufstelle für die männlichen Prostituierten in Köln, die sich allerdings nur selten so bezeichnen wollen.

Köln – Stricher, allein das Wort. Sabine Reinke zieht die Stirn kraus. „Viele der Jungs, die zu uns kommen, würden sich nie Stricher nennen, sie würden auch nie sagen, dass sie Sexarbeiter sind.“ Zu ihr kämen Gestrandete. Junge Männer mit schwierigen Biografien. Nicht wenige aus patriarchalen Gesellschaften, in denen Homosexuelle behandelt werden wie Aussätzige. Es sind Männer, die in Köln keine feste Wohnung haben, nicht gemeldet sind. Kein Geld haben. Und hören, dass sich etwas verdienen lässt, wenn man mit anderen Männern mitgeht. -> Hier: Alle 20 Folgen der Serie „Köln im Rotlicht“ im Überblick!

Es sind Jungs wie Denis, der aus Bulgarien nach Deutschland kam, um einen guten Job zu finden; der aber keine Schuldbildung hat, keine Arbeit fand und schließlich auf dem Strich in der Altstadt landete – obwohl er heterosexuell und Moslem ist. Oder Kaspar, der in seiner polnischen Heimat merkt, dass er schwul ist, wegen Mobbings seine Tanzausbildung abbricht, von einer Internetbekanntschaft nach Köln gelotst wird und in hier in einen Kreislauf aus Drogenkonsum und bezahltem Sex geriet.

„Dass sie mit Männern mitgehen, sagen die Jungs schon, dass sie Prostituierte sind, nicht“, sagt Reinke. „Wir haben es bei uns nicht mit den klassischen Strichern aus dem Buch ‚Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‘ zu tun – die Bandbreite ist groß – und jede Biografie einzigartig.“

Alles zum Thema Polizei Köln

Lesen Sie hier alle bereits erschienenen Folgen von „Köln im Rotlicht – Das Geschäft mit der Prostitution“ ->

Sabine Reinke ist seit 20 Jahren Geschäftsführerin des Kölner Vereins Looks. Seitdem versucht sie, junge Männer – manchmal auch Minderjährige – die aus verschiedensten Gründen anschaffen gehen, aufzufangen. Der Aufenthaltsraum des Vereins im Souterrain Am Mühlenbach 42 sieht wohnlich aus: schwarzes Ledersofa mit gelben Kissen, ein Fernseher, ein Computer zum Internetsurfen, eine Küche, ein Bad mit Dusche, Post- und Schließfächer. Im Flur liegen Kondome und Broschüren aus. Reinke und ihr kleines Team helfen den Männern bei Behördenangelegenheiten, informieren sie über gesundheitliche Gefahren der Prostitution, Weiterbildungsmöglichkeiten und Wohnungsangebote.

Nicht wenige der 600 bis 800 Männer, die sich lieber „Escort Boys“ als Stricher oder Prostituierte nennen, seien Analphabeten, wüssten nicht, dass Sex ohne Kondom gefährlich sein könnte, sagt Reinke.

Die „Escort Boys“ verbänden ihre Identität nicht mit Prostitution. Für die meisten gehe es vor allem ums Überleben in einer fremden Stadt. Daher sei auch das Prostituiertenschutzgesetz für die jungen Männer weit weg: „Die meisten möchten nicht auf ihre Dienste angesprochen werden. Wenn sie Vertrauen gefasst haben und doch darüber sprechen, haben sie Angst vor einem Ausweis, der sie als Sexarbeiter outet.

Lieber bleiben sie also im Untergrund. Aus meiner Sicht drängt das Gesetz viele Menschen geradezu in die Illegalität“, sagt Reinke. Schon lange würden die Rufe nach einem Verbot von Prostitution in Deutschland lauter. „Ich fände das weltfremd. Prostitution ist kein Teufelszeug. Es ist in Gesellschaften, die nicht jeden auffangen können, eine Realität. Jeder Mensch sollte die Wahl haben, sein Leben zu gestalten und sich seine Arbeit auszusuchen. Es hat aber nicht jeder die Wahl. Deswegen sollten wir diese Menschen nicht kriminalisieren, sondern versuchen, sie zu integrieren.“  

Glossar

Agisra

Die „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung“ in Köln ist seit 1993 eine Beratungs- und Informationsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen. Agisra unterstützt zum Beispiel Frauen, die von Gewalt, Sexismus oder Rassismus betroffen sind, die Sozialarbeiterinnen reden mit Frauen auf dem Straßenstrich, am Eigelstein und in Bordellen. Der Verein sitzt in der Bolzengasse in der Altstadt, Telefon 0221/124019.

Escort

Begleit-Agenturen oder Escort-Agenturen vermitteln Frauen, seltener auch Männer, gegen Honorar für eine vereinbarte Zeit. Die Agenturen dienen als Dienstleister und kassieren eine Provision von den Frauen, die oft zwischen 25 und 35 Prozent liegt. Die Preise für die meistens auch sexuellen Dienstleistungen schwanken, liegen aber nur selten unter 200 Euro pro Stunde und 1500 Euro pro Tag. Viele ihrer Mitarbeiterinnen seien Studentinnen, berichtet eine Kölner Agentur-Chefin. Eine vom Studienkolleg zu Berlin veröffentlichte Umfrage ergab, dass 3,7 Prozent aller Berliner Studierenden als Sexarbeiter im weiteren Sinne tätig sei. Verbände und Behörden gehen davon aus, dass der Großteil der im Escort-Bereich tätigen Frauen freiwillig dort arbeitet.

Hurenpass

Im Juli 2017 ist bundesweit das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft getreten. Seitdem müssen Prostituierte einen speziellen Ausweis bei sich tragen, den so genannten Hurenpass. Diese Anmeldebescheinigung, die regelmäßig verlängert werden muss, ist mit Namen, Meldeadresse und einem Foto versehen. Viele Sexarbeiterinnen weigern sich, ihre Anonymität aufzugeben und den Pass zu beantragen – sie fürchten unter anderem Repressionen in ihren Heimatstaaten, in denen Prostitution unter Strafe steht. 

Laufhaus

In einem meist mehrstöckigen Laufhaus mieten Prostituierte Zimmer an. Wenn sie auf Freier warten, stehen ihre Türen offen. Der Kunde streift durch die Flure und kommt mit den Frauen ins Gespräch, die vor oder in ihren Zimmern sitzen. Welche Leistungen sie anbieten und welche Preise sie dafür verlangen, bestimmen die Frauen selbst, nicht der Laufhaus-Betreiber. Er kassiert von ihnen nur die tägliche oder monatliche Miete. Der Eintritt in ein Laufhaus ist meistens frei. Wie viele der Frauen tatsächlich selbstbestimmt arbeiten und wie viele ihre Einnahmen an einen Zuhälter abtreten müssen, ist unklar.

Loverboys

Zuhälter, die vor allem Minderjährige und junge Frauen in Clubs und im Internet ansprechen. Sie täuschen ihnen die große Liebe vor, entfremden sie aber tatsächlich von Freunden und Familie und zwingen sie in die Prostitution. Laut Polizeierkenntnissen sind Loverboys in aller Regel Einzeltäter, die oft mehrere Frauen parallel haben, ohne dass die Opfer voneinander wissen. 

Menschenhandel

Eine Straftat, auf die zwischen sechs Monate und zehn Jahre Gefängnis steht. Unter Menschenhandel versteht das Gesetz jede Form des Anwerbens, Transports oder Beherbergens von Menschen, um sie auszubeuten – zum Beispiel in der Prostitution, durch Bettelei oder Zwangsarbeit. 

Poppers

Slang für eine flüssige, nicht verbotene Droge, die in kleinen Ampullen vertrieben wird und beim Öffnen ploppt. Poppers sollen stark gefäßerweiternd, aphrodisierend, muskelentspannend und schmerzhemmend wirken – und damit helfen, den Geschlechtsverkehr zu verlängern. Werden in fast allen Bordellen verkauft. Können zu Herzrasen, Übelkeit, Erbrechen und Sehstörungen führen, blutdrucksenkende Potenzmittel verstärken die Wirkung.

Prostituiertenschutzgesetz

Seit 1. Juli 2017 ist ein neues Prostituiertenschutzgesetz in Kraft. Es beinhaltet unter anderem die Verpflichtung eines so genannten „Hurenausweises“. Betreiber von Bordellen benötigen eine Erlaubnis und dürfen sich zuvor nicht im Bereich Menschenhandel/Prostitution strafbar gemacht haben. Das Gesetz sieht auch eine Kondompflicht für Freier und eine Gesundheits- und Ausstiegsberatung für Sexarbeiter/innen vor.  Sexarbeiterinnen dürfen seit Inkrafttreten des P. nicht mehr in dem Raum schlafen, in dem sie ihre Dienstleistungen anbieten – Bordellbetreiber müssen getrennte Schlaf- und Waschräume anbieten. Das Gesetz soll Sexarbeiter/innen vor Zwangsprostitution, ungeschütztem und gewalttätigem Sex schützen. Interessenverbände und Beratungsstellen kritisieren das Gesetz: Die meisten Prostituierten, die nicht freiwillig arbeiten, würden weiterhin nicht erreicht. Die Sorge, mit einem Hurenausweis identifiziert werden zu können, treibe viele Frauen in die Illegalität.

Das Gesetz hat für Prostituierte in NRW auch positive Effekte, resümiert die Prostituierten-Beratungseinrichtung Kober.  So habe sich die Hygiene in vielen Häusern verbessert, auch die Rückzugsmöglichkeiten, Aufenthaltsräume und Beratungen wurden von vielen Frauen als hilfreich beschrieben. Die in vielen Sprachen abrufbare Lola-App unterstützt demnach viele  Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, um sich besser über ihre Rechte, Krankenversicherung, Prävention und Beratungsangebote zu informieren. 

Saunaclub/FKK-Club

Die Gäste bewegen sich im Handtuch oder Bademantel durch den Club. Im Eintrittspreis enthalten sind oft Getränke und Speisen. Neben Sauna und Dampfbad gibt es meist eine Bar und separate Bereiche, in denen männliche Besucher mit Prostituierten ins Gespräch kommen. Die Einnahmen werden zwischen der Frau und dem Clubbetreiber aufgeteilt. Die Frauen sind entweder festangestellt, oder sie arbeiten auf eigene Rechnung beziehungsweise für einen Zuhälter, der sie häufig zum Club bringt und wieder abholt. Insider gehen davon aus, dass ein Großteil der Frauen in den Clubs nicht unabhängig von Zuhältern arbeitet.

Sexarbeit/Prostitution

Sexarbeit und Prostitution sind nicht dasselbe. Sexarbeit ist der neutralere Begriff, er beinhaltet keine negative Bewertung. Eine Sexarbeiterin ist eine Dienstleisterin, die einen sexuellen Service anbietet, um damit Geld zu verdienen. Das Wort Prostitution ist negativ belegt: Im Lateinischen bedeutet es, etwas „nach vorne zu stellen“ – sich preiszugeben oder auszustellen. Prostitution wird verbunden mit einem patriarchalen System –  Bordellen, Zuhältern und Freiern, die die Regeln diktieren. Bei einer Frau, die auf den Straßenstrich geht, um ihre Drogensucht zu finanzieren, würde man eher von einer Prostituierten sprechen, bei einer Frau, die sich mit Escort-Service ihren Lebensunterhalt verdient, eher von Sexarbeiterin. Bei einer jungen Frau aus Osteuropa, die im Bordell Sex anbietet, ist die Unterscheidung schwieriger – wenn sie dort arbeitet, um die Existenz ihrer Familie zu sichern, spräche man von Sexarbeit, würde sie von ihrem Vater oder Bruder unter Druck gesetzt, anschaffen zu gehen, von Prostitution. 

Sozialdienst katholischer Frauen (SkF)

Anlaufstelle im Caritasverband für Frauen und Familien in Not. Seit mehr als hundert Jahren engagiert sich der SkF in Köln für Prostituierte, informiert sie über Rechte und Pflichten, unterstützt sie bei Sorgen in Familie und Partnerschaft und hilft den Frauen beim Ausstieg, wenn sie das wünschen. Die  Geschäftsstelle ist am Mauritiussteinweg in der Innenstadt, Telefon 0221/12695-0.

Verrichtungsbox

Garagenähnliche Boxen auf dem Straßenstrich an der Geestemünder Straße in Niehl. Das fußballfeldgroße, eingezäunte Gelände eröffnete im Oktober 2001. Freier fahren dort zunächst durch eine Kontaktzone und dann mit den Frauen in eine der acht Boxen, die in einer alten Scheune untergebracht sind. Es gibt auch Container für Fußgänger oder Radfahrer. In jeder Verrichtungsbox ist ein Alarmknopf an der Wand. Während der Öffnungszeiten sind Sozialarbeiter auf dem Gelände anwesend, Ordnungsamt und Polizei kontrollieren das Gelände regelmäßig.

Weißer Ring

Hilfsorganisation für Menschen, die in Deutschland Opfer von Kriminalität geworden sind. Die ehrenamtlichen Betreuer beraten auch immer wieder Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution, unterstützen sie bei der Suche nach spezialisierten Rechtsanwälten, bei der Beantragung einer lebenslangen Opferrente oder mit der Zahlung einmaliger Soforthilfen bis zu 300 Euro. Zentrale Anlaufstelle auch für Menschen in Köln ist das Landesbüro in Düren, Telefon 02421/16622.

Zwangsprostitution

Eine besondere Form der Ausbeutung und seit 2016 ein eigener Straftatbestand neben dem Menschenhandel. Vor 2016 war der Begriff rechtlich nicht definiert. Bei Verurteilung drohen dem Täter zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Haft. Die meisten Opfer stammen aus Deutschland sowie aus Ost- und Südosteuropa. Häufig werden die Frauen angeworben, indem der Täter ihnen eine legale Arbeit etwa in der Gastronomie oder Hotellerie verspricht.

KStA abonnieren