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Kölner Historikerin zu Straßennamen„Geschichte muss auf den Prüfstand“

Lesezeit 6 Minuten
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Protest gegen Straßennamen im Kölner Afrikaviertel

  • Nicht nur in Köln wird darüber diskutiert, ob historisch problematische Straßennamen geändert werden sollen. Darf, muss Geschichte immer wieder neu bewertet werden?
  • Historikerin Ulrike Lindner sagt: Dass so etwas geschieht, ist ein positives Kennzeichen freiheitlich-demokratischer Gesellschaften. In autokratischen Regimes gibt es das nicht. Dort ist die Erinnerungskultur von oben gelenkt und verordnet.

Frau Professorin Lindner, gibt in der Rückschau auf die Geschichte ein Gut und Böse? Ulrike Lindner: Auch Historiker sind Kinder ihrer Zeit. Es gibt keinen absoluten Standpunkt, von dem aus man sagen könnte, eine bestimmte Epoche, konkrete Ereignisse oder historische Persönlichkeiten seien ein für alle Mal abschließend beurteilt oder auch nur hinreichend ausgeleuchtet. Es ist vielmehr der Sinn der Geschichtswissenschaft, die Dinge immer wieder neu zu hinterfragen. Von Zeit zu Zeit decken Historiker auch neue Sachverhalte auf, die dann zu veränderten Bewertungen führen.

Haben Sie ein Beispiel?

Die deutsche Kolonialgeschichte war ein lange vernachlässigtes Kapitel, weil sich die Historiker nach 1945 aus gutem Grund auf die Zeit des Nationalsozialismus und deren Aufarbeitung konzentriert hatten. Erst in den 1990er Jahren richtete sich der Fokus dann verstärkt auch auf die Kolonialvergangenheit. Dabei kamen bis dahin völlig unbekannte Vorgänge ans Licht wie der Maji-Maji-Krieg im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, wo deutsche Truppen zwischen 1905 und 1907 mit ihrer Taktik der verbrannten Erde bis zu 300000 Menschen töteten.

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Zur Person

Ulrike Lindner, geb. 1968, ist seit 2013 Professorin für die Geschichte Europas und des europäischen Kolonialismus an der Universität zu Köln.

Das ist der Sachverhalt. Aber was ist mit dem Urteil? Aus heutiger Sicht wird man von deutschen Kriegsverbrechen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit reden müssen.

Rückprojektionen sind immer problematisch. Andererseits ist es der Job von Historikern, vergangene Geschehnisse nicht nur nachzuzeichnen, sondern auch zu bewerten. Dafür kann man zum Beispiel fragen: Wie haben sich bestimmte Akteure im Rahmen des Gesetzes- und Wertekanons bewegt, der zu ihrer Zeit galt? Welche Handlungsspielräume hatten sie? Und wie haben sie diese genutzt? Bisweilen kann es aber auch sinnvoll sein, vergangene Geschehnisse mit modernen Maßstäben zu beurteilen. Ich finde es zum Beispiel richtig, die Verfolgung der Herero als Völkermord zu bezeichnen, obwohl es diese Kategorie vor 100 Jahren noch nicht gab. Abzulehnen ist es hingegen, ein geschichtliches Urteil auf einen einzigen Wert oder eine einzige Perspektive zu verengen, nur weil es hierfür vielleicht gerade eine besondere Sensibilität gibt.

Nehmen wir Martin Luther. Über dessen antisemitische Aussagen wurde anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 intensiv debattiert. Luther-Büsten, -Denkmäler und -Straßenschilder sind trotzdem stehengeblieben.

Alle problematischen Denkmäler abzureißen, finde ich als Historikerin fragwürdig. Was abgerissen wird, ist dann eben weg und nicht mehr Gegenstand der Auseinandersetzung. Das ist zumindest die Gefahr. Manche Relikte der Vergangenheit müssen verschwinden, natürlich. Hitler-Statuen mussten weg. Nach Nazi-Größen oder Kolonialverbrechern wie Lothar von Trotha benannte Straßen mussten neue Namen bekommen. Man kann ausgemachten Kriegsverbrechern und Massenmördern keine öffentliche Ehrung gewähren. Aber die meisten historischen Persönlichkeiten waren doch ambivalente Gestalten. Und dann finde ich es viel interessanter, genau die Widersprüchlichkeiten herauszuarbeiten und zum Beispiel mit Kunstprojekten oder Umwidmungen auf Denkmäler zu reagieren, statt sie einzuebnen und eine vermeintliche Eindeutigkeit in der historischen Beurteilung herzustellen. Zumal künftigen Generationen damit die Chance genommen wird, sich in ihrer Zeit noch einmal neu mit der jeweiligen Gestalt auseinanderzusetzen und ihre eigenen Fragen an sie zu richten.

Vom Anspruch an Menschenrechte, an Demokratie und Rechtsstaat könnte aber doch keine einzige Herrscherpersönlichkeit vor dem 20. Jahrhundert bestehen.

Natürlich nicht. Die Demokratie, wie wir sie kennen und verstehen, gab es damals eben noch nicht. Und selbst wenn wir auf die Ursprünge im antiken Griechenland schauen, stellen wir fest: Auch das war alles andere als eine Demokratie nach heutigen Maßstäben. Als Faustregel könnte man deshalb sagen: Je weiter entfernt eine geschichtliche Epoche liegt und je weniger die damaligen Akteure in noch heute virulente Vorgänge oder Problemlagen verstrickt sind, desto mehr kann man sie in Ruhe lassen. Man wird keine Statuen von Julius Cäsar stürzen, weil die antike römische Gesellschaft auch eine Sklavenhaltergesellschaft war. Dagegen ist die kritische Auseinandersetzung mit den Befürwortern der Sklaverei in den USA oder Großbritannien deshalb wichtig, weil die Nachwirkungen für große gesellschaftliche Gruppen bis heute sehr spürbar sind.

Dann aber doch noch mal zurück zum Beispielfall Luther: Seine antisemitischen Aussagen hatten auch eine Wirkungsgeschichte bis in die jüngste Vergangenheit. Muss man vielleicht die Verdienste in eine Waagschale, das Versagen in die andere Waagschale werfen und schauen, wohin sich der Zeiger neigt?

Nein. Historiker sind keine Richter. Ich finde es aber wichtig, beide Seiten wahrzunehmen. Ich meine, welche Persönlichkeit der Vergangenheit ist nicht in irgendeiner Weise ambivalent? In den Werken der großen Philosophen Kant oder Hegel etwa finden sich Aussagen über andere Völker, die aus heutiger Sicht als rassistisch zu qualifizieren sind. Das Hegel-Wort über die Bewohner Afrikas als „Völker ohne Geschichte“ hat in der Geistesgeschichte und im realen Umgang mit Afrika deutliche Spuren hinterlassen. Das ist ohne Frage problematisch, hebt aber die große Leistung Hegels oder Kants nicht komplett auf. Richtig wäre es vielmehr, die Leistung zu würdigen, ohne das Fragwürdige zu verschweigen. Man kann und soll die Gründerväter der USA in Ehren halten. Aber man sollte sie nicht zu fehlerlosen Helden stilisieren. Dass sie eben auch Sklavenhalter waren, ist über Jahrhunderte komplett ausgeblendet worden.

Sie sprachen von zeitbedingten Sensibilitäten für bestimmte Themen. Kann das nicht auch das Urteil trüben?

Das Urteil über Geschichte hängt immer auch von der öffentlichen Wahrnehmung bestimmter Themen ab. Es gibt Konjunkturen der Aufmerksamkeit und des Vergessens. Die Schwerpunktsetzungen ändern sich. Im Moment findet eben eine Debatte über Rassismus, die Diskriminierung von Schwarzen und deren Wurzeln in der Vergangenheit statt. Im Zuge dessen kommt Geschichte auf den Prüfstand. Das ist ja keine spontane Aufwallung aus dem Nichts, sondern man muss einfach feststellen, dass die Aufarbeitung der Sklaverei sowohl in den USA als auch in Großbritannien in den vergangenen Dekaden nicht sehr gut gelungen war – um es vorsichtig zu formulieren. Das damit verbundene Leid und der latente Ärger manifestieren sich irgendwann – und dann kommt es eben zur offenen Auseinandersetzung über die jeweilige Erinnerungskultur. Dass so etwas geschieht, ist ein positives Kennzeichen freiheitlich-demokratischer Gesellschaften. In autokratischen Regimes gibt es das nicht. Dort ist die Erinnerungskultur von oben gelenkt und verordnet.

In Nippes erinnert im „Afrika-Viertel“ eine Reihe von Straßennamen an die koloniale Vergangenheit Deutschlands. Das ist umstritten. Ganz in der Nähe steht das Blücher-Gymnasium in der Blücherstraße, und in der Umgebung tauchen noch weitere preußische Generäle oder Schauplätze von Schlachten auf. Das stört offenbar nicht gar so sehr.

Man sollte hier immer bedenken, ob es Gruppen in der Gesellschaft gibt, die sich durch historische Reminiszenzen gegenwärtig verletzt oder angegriffen fühlen. Ich kann im Moment nicht sehen, dass sich französische Einwohner Kölns durch die Sedanstraße belastet fühlen sollten. Hingegen reklamieren schwarze Deutsche mit Recht, dass die Kolonialvergangenheit vom deutschen Staat nicht gerade mit Nachdruck aufgearbeitet wurde und sie das als bedrückend wahrnehmen. Trotzdem finde ich es falsch, alle möglichen Straßennamen zu tilgen, die mit Ereignissen oder Persönlichkeiten der Geschichte verbunden sind.

Sondern?

Man sollte eher eine kritische Erinnerung durch mehr Information erlauben. Gestaltung und Prägung des öffentlichen Raums sind bedeutsam. Es wäre eine Form von Geschichtsklitterung, wenn am Ende nur noch Haselnuss-Straßen und Eichhörnchenwege übrig blieben. Und es wäre eine Illusion zu glauben, man entkäme der Last der Geschichte durch Verdrängung. Die „damnatio memoriae“ ist der falsche Ansatz. Die Aufgabe der Historiker ist es, wie gesagt, die Vergangenheit immer wieder neu kritisch zu befragen.

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