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Kölner Mammutprozess DrachSchmerzen und Angst bestimmen das Leben der Opfer

Lesezeit 6 Minuten
Geldtransporter Flughafen Drach dpa

März 2019: Sicherheitsleute stehen an dem überfallenen Geldtransporter am Flughafen Köln/Bonn.

  • Am Dienstag beginnt der Mammut-Prozess gegen Thomas Drach in Köln.
  • Der Reemtsma-Enführer ist wegen zweifachen versuchten Mordes und besonders schweren Raubes angeklagt.
  • Für die Opfer der Gewaltverbrechen sind die Taten bis heute präsent. Und die Recherche zeigt, dass ein 12-Jähriger fast in die Schussbahn gekommen wäre.

Köln – Das Zittern ließ seinen ganzen Körper beben. „Du musst sofort die Einsatzzentrale alarmieren“, rief Geldbote Walter M. (Name geändert) seinem Kollegen im Sicherheitstransporter zu. Es war ein Vormittag Ende März 2018 auf dem Ikea-Parkplatz in Köln-Godorf. Der Wachmann klammerte sich ans Fahrzeug und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf: „Das ist doch jetzt nicht wirklich passiert.“

Ein vermummter Räuber hatte ihm ein Sturmgewehr vom Typ AK 47 vors Gesicht gehalten. Die Kommandos fielen knapp aus: „Waffe her, Geld her“. Notgedrungen ließ sich Walter M. seine Pistole abnehmen, dann stellte er den Geldkoffer mit gut 76.000 Euro auf den Boden. Als er die Tragesicherung losließ, heulte der Alarm los. Den Täter kümmerte das nicht, er schnappte sich den Behälter und lief zum Parkplatz. Die Überwachungskamera „Sommermöbel“ am Personaleingang des Warenhauses zeichnete den Schützen auf, als er zum Fond eines alten BMW eilte, in dem er dann mit hohem Tempo und offenbar einem Komplizen davonraste. Kurz darauf fand die Polizei den ausgebrannten Wagen ein paar Kilometer weiter auf einem Acker in Immendorf. Von den Tätern fehlte jede Spur.

Zwei Geldboten wurden niedergeschossen

Die Ereignisse beschreiben einen von vier Raubüberfällen, die sich in den beiden Anklagen der Kölner Staatsanwaltschaft gegen Thomas Drach wiederfinden. Von 2018 bis 2019 soll der einstige Entführer des Tabak-Erben und Publizisten Jan Philipp Reemtsma in Köln, Limburg und Frankfurt/Main insgesamt 232.000 Euro erbeutet haben. Dabei wurden zwei Geldboten niedergeschossen.

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Vom 1. Februar an muss sich der mehrfach vorbestrafte Angeklagte unter anderem wegen zweifachen versuchten Mordes und besonders schweren Raubes vor dem Kölner Schwurgericht verantworten. Bei einem Schuldspruch droht dem 61-jährigen zusätzlich die Sicherungsverwahrung.

Niederländer soll Fluchtfahrzeuge gelenkt haben

Eugen W., 53, ein niederländischer Trockenbauer, muss wegen mutmaßlicher Beihilfe in drei Fällen auf der Anklagebank Platz nehmen. Er soll Tatorte ausgekundschaftet und mitunter das Fluchtfahrzeug gelenkt haben. 

Ein langwieriger Indizienprozess bahnt sich an. Die 21. Große Strafkammer hat vorläufig 53 Verhandlungstage bis in den kommenden Oktober angesetzt. Drachs Verteidiger Andreas Kerkhof weist die Vorwürfe zurück: „Herr Drach strebt einen Freispruch an, weil die Vorwürfe völlig haltlos sind. Es gibt keinerlei stichhaltige Beweise dafür, dass gerade mein Mandant die angeklagten Überfälle begangen hätte“, befindet der Anwalt. Ein Beschuldigter mit einer anderen Vita, ist Kerkhof überzeugt, müsste sich „ganz sicher“ in keinem vier angeklagten Fälle vor Gericht verantworten.

Viele Indizien führen zu Drach

Die Ankläger vertreten eine andere Ansicht. Ihre Anhaltspunkte: Eine DNA-Mischspur an einem der ausgebrannten Tatfahrzeuge, die auf Drach hinweist. Ein Gutachten, das den Angeklagten anhand von Überwachungsvideos bei seinen Raubzügen angesichts seines auffälligen Watschelgangs zu einem hohen Prozentsatz als Täter identifiziert. Mietwagen, die durch Drachs mutmaßlichen Komplizen benutzt und kurz vor Überfällen an Tatorten gesichtet wurden. Auffällige Reisebewegungen der beiden Angeklagten rund um die Beutezüge. Sowie belauschte Gespräche in verwanzten Autos der Verdächtigen. Dort legt Eugen W. gegenüber einem Kumpel nahe, dass man verräterische Kleidung nach einem Coup verbrannt habe.

Die Ermittler der Kölner Kripo haben durch aufwändige Nachforschungen aus einzelnen Gliedern eine Beweiskette zusammengesetzt. Ob die hält, wird der Prozess erweisen. Zumindest gilt für die Hauptverhandlung die höchste Sicherheitsstufe. 97 Zeugen sind für das Mammutverfahren aufgeführt. Darunter auch jene beiden angeschossenen Geldboten, die bis heute unter den Folgen der Attacke leiden.

Nur Notoperation konnte Opfer retten

Darunter ist zum Beispiel Markus W. (Name geändert), der am Morgen des 6. März 2019 auf dem Flughafen Köln/Bonn nicht schnell genug den Kommandos des maskierten Mannes nachkommt und einen Schuss in den rechten Oberschenkel erhält. Nur eine Notoperation kann ihn retten.  Weitere komplizierte Eingriffe folgen, sein rechtes Bein fühlt sich lange Zeit taub an. Seit dem Überfall plagen ihn Albträume bis hin zu Panikattacken.

Markus W. meidet große Menschenmengen. Als er seiner Firma einen Besuch abstattet, bricht ihm beim Anblick eines Geldtransporters der Angstschweiß aus. Da ist für ihn klar, dass er nie wieder in seinem alten Job arbeiten kann. In seiner Vernehmung zieht er ein bitteres Fazit: Der Schuss des Täters habe ihm einen großen Teil seines restlichen Lebens genommen. Bitter auch, weil die damalige Beute gerade einmal 400 Euro betrug.  

Wachmann weigert sich, Geldbox auszuhändigen

Es ist der 9. November 2019 gegen halb zwölf Uhr mittags, als Security-Mitarbeiter Addi S. (Name geändert) die Geldbox mit knapp 59.000 Euro aus der IKEA-Filiale in Frankfurt/Main entgegennimmt. Während er zum Geldtransporter geht, stellt sich ihm ein maskierter Mann in den Weg. In seiner Hand hält der maskierte Täter einen Revolver. „Geld, Geld, Geld“, blafft der Räuber.

Doch Addi S. denkt gar nicht daran, ihm die Beute zu überlassen. Nach einer kurzen Rangelei rennt der Räuber mit dem Koffer davon. Der Wachmann reißt seine Schusswaffe aus dem Holster und feuert eine Kugel hinterher. Im Laufen dreht sich der Räuber halb herum und schießt auf Addi S. Die Kugel durchschlägt den linken Oberschenkel des Security-Mitarbeiters.

Beinahe sei ein 12 Jahre alter Junge getroffen worden

Ein Teil des Projektils fliegt weiter. Das Geschoss hätte laut Anklage beinahe einen zwölf Jahre alten Schüler im Fond eines vorbeifahrenden Autos getroffen. Der Vater des Jungen gibt später zu Protokoll, dass er einen Parkplatz gesucht habe, als ein lauter Schlag seinen Ford erschütterte. Erst zu Hause entdeckt der Fahrer das Einschussloch in der linken Hintertür seines Wagens.

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 Unterdessen spritzt das Blut aus der klaffenden Wunde des schwerverletzten Geldboten. Addi S. hat Glück. Ein Sanitäter und Berufssoldat, der zufällig im Möbelhaus shoppt, nimmt sich seiner an. Er bindet das Bein mit einem Gürtel ab. Dann drückt er seinen Daumen tief in die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Diese Maßnahme rettet dem Verletzten das Leben, auch wenn er zwischenzeitlich beinahe ins Koma fällt. Später stellt sich heraus, dass der angeschossene Geldbote in wenigen Minuten bis zu zwei Liter Blut verloren hat. 

Opfer leidet bis heute unter Schmerzen und Angst

Addi S. braucht mehr als ein Jahr, um wieder auf die Beine zu kommen. Bis heute aber ist er laut der Staatsanwaltschaft zutiefst traumatisiert. Anfangs setzen ihm täglich die Bilder des Überfalls zu. Eine Rückkehr in seinen alten Job scheitert bereits nach zwei Tagen. Schmerzen und Angstzustände lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Das Wort Ikea löst bei ihm Schweißausbrüche aus und lässt ihn schwer atmen. Bei jedem lauten Geräusch zuckt Addi S. demnach zusammen.

Mitmenschen begegnet er in der Regel mit Misstrauen. Ob ihm die fortwährende Therapie irgendwann zu einem halbwegs normalen Leben verhelfen wird, ist unklar. Schon der Auftritt im Zeugenstand wird ihm einiges abverlangen.

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