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Kölner Soziologe zur Pandemie„Die klassische Todesursache des Menschen ist zurück“

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Blick auf den Rheinboulevard am Kölner Rheinufer in Deutz. 

  • Prof. Holger Pfaff ist Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln und der Uniklinik Köln.
  • Im Interview spricht er über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Gesellschaft, die Vergrößerung sozialer Ungleichheiten und die politische Strategie im Vergleich zu China.
  • Seine Kritik: Grundannahmen über die Pandemie werden nicht ausreichend überprüft.

Herr Pfaff, sind Sie als Soziologe ein Gewinner der Krise? Immerhin kann man gerade in Echtzeit beobachten, wie sich unsere Gesellschaft verändert.

Soziologen sind keine Gewinner der Krise. Aber natürlich gibt es in Ausnahmesituationen einen erhöhten Bedarf an Interpretationen. Wir Soziologen versuchen, mit unseren Instrumenten nachzuvollziehen, was sich in dieser Gesellschaft gerade alles verändert. Dafür gibt es auch ein großes öffentliches Interesse.

Und was sind Ihre bisherigen Erkenntnisse?

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Wir beobachten in drei Bereichen größere Veränderungen: im Gesundheitswesen, in der Bildung und in der Arbeitswelt. Bei letzterer beobachten wir, dass die Ergebniskultur zur Zeit zu und die Präsenzkultur abnimmt. Doch wenig deutet darauf hin, dass es nach der Pandemie kaum noch Präsenz geben wird. Das Positive, das mit der Präsenz verbunden ist, spürt man nämlich erst mit ihrem Wegfall. So schwächt Homeoffice das Sozialkapital, das sich aus persönlichen Kontakten ergibt und das wir für Arbeit und Karriere brauchen.

Und in der Bildung?

Hier sehe ich eine Gefahr. Die soziale Ungleichheit wird durch die Pandemie größer. Wir wissen aus Untersuchungen, dass bereits die Schulferien zu Nachteilen für bildungsschwächere Schichten führen. Der Lockdown verstärkt diesen Effekt.

Im Gesundheitssystem?

Zum einen wird klar, dass unser Gesundheitssystem gut aufgestellt ist, wir es aber noch widerstandsfähiger machen müssen. Diese Erkenntnis sickert auch politisch ein. Zum anderen sehe ich im Gesundheitsbereich die Tendenz größer werdender gesundheitlicher Ungleichheit. Schon vor Corona starben in Deutschland Männer aus der einkommensschwächsten Schicht elf Jahre früher als Männer aus der einkommensstärksten Schicht. Auch von Corona sind die Unterschichten hinsichtlich Infektionsrisiko und Erkrankungsschwere eher betroffen, wie die Mehrzahl der Studien zeigt. So können sich gut situierte Akademiker im Homeoffice und mit sicheren Masken besser schützen als andere, die Pakete austragen oder kassieren müssen. Die gesundheitliche Ungleichheit muss unbedingt verringert werden. Am effektivsten ist hier die Schule, das zeigt sich immer deutlicher. Schule ist ein Ungleichheitskorrektiv. Schulschließungen machen mir daher speziell aus dieser Perspektive Sorgen.

Der zweite Lockdown wurde verlängert. Sehen Sie soziologische Unterschiede zwischen dem ersten und dem aktuellen Lockdown?

Ich verstehe die politische Strategie als Stotterbremse. Der erste Bremsvorgang war stärker als der zweite. Der Zielkonflikt zwischen Aufrechterhalten der Wirtschaft und Senken der Infektionszahlen wurde im zweiten Lockdown so gelöst, dass ein Mittelweg eingeschlagen wurde. Dies geschah in der Hoffnung, dass dies in der Summe zum kleinstmöglichen Schaden führt. Ich halte diese Strategie grundsätzlich für richtig, sie muss jedoch unbedingt durch den systematischen Schutz der vulnerablen Gruppen ergänzt werden. Die Alternative: Eine radikale Bremsung wie in China, damit das Virus überhaupt keine Chance hat. Aber schafft man das im Rahmen unseres politischen Systems? Zudem: Allein die Ärzte und Pflegekräfte müssen ja trotzdem arbeiten. Und wenn man die Präsenz der Polizei zurückfährt, wird die Kriminalität zunehmen. Man kann also nicht völlig auf null gehen. Vielmehr brauchen wir eine stabile Kontrolle, und in gewisser Weise haben wir die jetzt.

Beobachten Sie in der Gesellschaft nach all den Monaten eine gewisse Pandemiemüdigkeit?

Wir haben ein differenziertes Bild. Es gibt Menschen, die sich vollständig an die Regeln im Lockdown halten. Dann gibt es welche, die es teilweise tun und die, die es gar nicht machen. Aus der Organisationsforschung wissen wir, dass, wenn man neue Dinge einführt, ein Drittel richtig gut mitmacht, ein Drittel sich neutral verhält und das letzte Drittel meistens aktiv dagegen arbeitet. Das ist normal, damit muss jeder Manager umgehen. Aber es ist eben auch auf die Pandemie übertragbar.

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Die Infektionszahlen gingen übrigens schon zurück, bevor der erste Lockdown überhaupt angefangen hat, weil die Leute die erschreckenden Bilder aus der italienischen Stadt Bergamo gesehen haben. Nach dem Motto: Jetzt ist – wie Macron sagte – Krieg, jetzt müssen wir aufpassen. Mit der Zeit erfährt man aber mehr über die Pandemie und weiß besser, wie man damit umgehen muss. Aber: Der Wissensstand ist in den unterschiedlichen Gruppen verschieden. Das macht es schwieriger, eine einheitliche Corona-Strategie anzuwenden. Es gibt Subgruppen, die spezifisch angesprochen werden müssen. Da reicht eine Generalstrategie nicht mehr aus. Das funktioniert nur am Anfang, wenn alle Angst haben.

Köln entschied sich überwiegend sehr konsequent gegen den Karneval und für die Solidarität. Hat Sie das überrascht?

Ja, durchaus, denn das war für Köln ein schwerer Schritt. Die Stadt zeigt tatsächlich ein neues Gesicht, das belegen auch die im Deutschlandvergleich unterdurchschnittlichen Infektionszahlen. Die Mentalität dieser Stadt, Frohsinn und Vernunft zugleich, ist bemerkenswert.

Es besteht die medizinische Notwendigkeit, unser Verhalten gezielt zu koordinieren. Ist das in einem liberalen System schlicht unmöglich? Ist die Politik verdammt, auf die Vernunft zu hoffen?

Diese Schlussfolgerung wäre mir zu hart. Aber natürlich steht die Demokratie jetzt auf dem Prüfstand, weil es scheint, dass Autokratien oft erfolgreicher in der Pandemie-Bekämpfung sind. Es gibt Leute, die sagen: Wir müssen autoritärer führen. Schon jetzt haben wir eine Situation, in der nicht primär im Parlament, sondern vor allem in den Konferenzen zwischen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin entschieden wird. Das Motto der letzten Monate lautet: Wir können jetzt nicht alles ewig diskutieren. Auf der anderen Seite gibt es in diesen Konferenzen eben einen lebhaften Diskurs unter gewählten Politikern, es wird also nicht völlig zentral durchregiert. Im Kern spiegelt sich hier in der Debatte der ideologische Konflikt zwischen China und den westlichen Demokratien wider.

China hat also gewonnen?

Das würde ich nicht sagen. Auch aus einer technokratischen Perspektive bin ich weiterhin der Überzeugung, dass politische Entscheidungen tendenziell von besserer Qualität sind, wenn viele Leute mitdiskutiert haben. Entscheidet eine Person allein, geht es natürlich schneller. Geschwindigkeit ist Chinas Stärke, sie hilft ihnen derzeit. Aber dort werden vor der Entscheidung weniger Interessensgruppen gehört als in Deutschland. Und es ist technisch unmöglich, komplexe Systeme dauerhaft zentral zu steuern. Denn in einem solchen System werden Planungen fehleranfällig, Störungen manchmal systemkritisch und Grundannahmen oft unverrückbar. Dabei ist es gerade in einer Corona-Pandemie wichtig, Grundannahmen zu überprüfen.

Welche Grundannahme sollte Deutschland aus Ihrer Sicht überprüfen?

Ein Beispiel: Die vulnerablen Gruppen kann man nicht wirklich schützen. Diese Grundannahme hat dazu geführt, dass man die Pflegeheime nicht systematisch geschützt hat. Das hätte vor allem bedeutet: Freie Verteilung guter Masken ab Sommer und systematische, flächendeckende Durchführung von PCR- und Schnelltests mit Unterstützung externer Kräfte ab Herbst, so wie viele Experten es schon damals empfohlen hatten. Das wurde weder konsequent noch flächendeckend gemacht – mit dem ethischen Argument, man könne die alten Menschen nicht wegsperren. Dahinter steht durchaus eine Logik: Das Problem soll durch den breiten Lockdown an der Wurzel gepackt werden. Doch man würde bei einer Flut immer auch den Damm hochziehen. Wir haben leider versäumt, dies frühzeitig zu tun. Das wird jetzt, wie die traurigen Todeszahlen in Pflegeheimen zeigen, offensichtlich.

Die Politik braucht also Klarheit, aber das Grundprinzip der Wissenschaft, die Falsifizierung von Thesen, ist so ziemlich das Gegenteil. Funktioniert es bislang dennoch?

Wissenschaft ist ein systematischer Suchprozess. Feststehende Meinungen gibt es nur solange, bis sie widerlegt werden. Armin Laschet beklagte sich einmal, dass er von wissenschaftlichen Experten immer wieder andere Meinungen höre. Das jedoch ist Merkmal von Wissenschaft. Problematisch ist das Gegenteil. Hier treffen politischer Entscheidungsdruck und wissenschaftlicher Suchprozess aufeinander, zwei unterschiedliche Logiken. Interdisziplinarität in der politischen Beratung kann eine Lösungsmöglichkeit sein.

Auch beim Thema Klimawandel treffen sich diese beiden Logiken, die Auswirkungen auf das unmittelbare politische Handeln sind aber wesentlich kleiner. Vielleicht, weil die Folgen dort nicht innerhalb des eigenen Mandats auf die Politik zurückfallen?

Das ist ein interessanter Aspekt. Wenn Politiker heute eine Fehlentscheidung in der Klimapolitik treffen, sind die Auswirkungen oft erst spürbar, wenn sie aus dem politischen Amt ausgeschieden sind. In der Corona-Krise ist das anders. Die Zurechnung des politischen Handelns ist viel eindeutiger. Auf der anderen Seite wirken sich die Maßnahmen in der Corona-Krise biologisch im Wortsinn von heute auf morgen aus.

Wäre die Corona-Politik ein Jahr zuvor ohne bevorstehende Bundestagswahl eine andere gewesen?

Das lässt sich nicht ausschließen. Die Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass abwartendes Agieren weniger geschätzt wird als bestimmendes Handeln. Das zeigt, dass die meisten Menschen Wert auf Schutz legen. Die Bundestagswahl wird in hohem Maße auch eine Wahl der Handlungsstile sein.

Vom klassischen politischen Diskurs verabschiedet haben sich anti-wissenschaftliche Bewegungen, die seit Monaten außergewöhnlich präsent sind. Ist das Virus daran schuld?

Es gibt Dinge, bei denen wir einen sehr breiten gesellschaftlichen Konsens haben. Dazu gehört zum Beispiel das Verhalten an den Verkehrsampeln. Bei anderen Themen, die sich intuitiv nicht sofort erschließen, wie COVID-19, ist das anders. Wir sind keine Maschinen, die gedankenlos funktionieren. Wir brauchen ständig Aufklärung und Reflektion, um vernunftgeleitet handeln zu können. Anders ist ein rationales Vorgehen auf Dauer nicht möglich. Man muss deswegen auch unbedingt mit den Menschen sprechen, die das Virus oder seine Gefahr leugnen, und sie argumentativ überzeugen. Anders sind sie, fürchte ich, nicht zu erreichen. Soziale Defizite, die wir haben, zeigen sich in der Krise besonders stark. Doch sie werden von ihr eher nicht hervorgerufen.

Was wurde denn von der Krise hervorgerufen? Gibt es etwas fundamental Neues?

Im Medizinischen, ja: Wir dachten, dass Infektionen kein relevantes Lebensrisiko mehr wären und wir das Thema seit Jahrzehnten hinter uns gelassen haben. Selbst mit dem Auftreten von HIV änderte sich das nicht. Jetzt schon. Die klassische Todesursache des Menschen ist zurück.

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