Kölner Wissenschaftler zur Özil-Debatte„Wir reden zu selten über Rassismus”

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Sprachwissenschaftler Aria Adli lehrt an der Universität Köln Sprachwissenschaft.

Sprachwissenschaftler Aria Adli lehrt an der Universität Köln Sprachwissenschaft.

Köln – Herr Adli, Fußballspieler Mesut Özil hat in einem Statement zu seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft eine Ungleichbehandlung beklagt: In den Augen des DFB-Präsidenten sei er „Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren“. Wie bewerten Sie diese Aussage als Sprachwissenschaftler?

Das Wort „wir“ kann den Angesprochenen im Deutschen entweder mit einschließen – oder ausschließen. Viele Sprachen haben zwei Pronomen für das Wort „wir“. Würden wir in einer Sprache leben, in der es zwei Wörter dafür gäbe, wüsste man gleich, was gemeint ist. Özil beschreibt die Erfahrung des nicht wirklich Dazugehörens, das sich in dem ausschließenden „wir“ für viele Menschen mit Migrationshintergrund immer wieder ausdrückt.

Sie sind in Köln geboren, Ihre Eltern kommen aus dem Iran. Wie haben Sie als Kind und Jugendlicher dieses „wir“ erlebt?

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Ich wurde zum Beispiel von mehreren Jungs aus meiner Bad Godesberger Klasse immer wieder „Türke“ genannt – was erstmal nur eine fehlerhafte Bezeichnung meiner Herkunft war; es war aber als rassistische Beschimpfung gemeint. Das „wir“ habe ich immer wieder auch ausschließend erlebt. Es waren keine Einzelfälle, sondern ein Umgangston, der normal war, und der von Lehrern oft so hingenommen wurde. Ich erinnere mich an eine Situation in der Mittelstufe, als zwei Flüchtlinge aus dem Iran in meine Klasse kamen. Sie konnten kaum Deutsch und erfüllten deutlicher als ich das Bild des Ausländers. Mir fiel auf, dass sie im Gegensatz zu mir in Ruhe gelassen wurden. Im Nachhinein dachte ich oft: Es ist die Kombination aus „eigentlich gar nicht anders sein“ und „als Konkurrent wahrgenommen werden“, die wohl Angriffsfläche bietet für Herabsetzungen.

Sie sind jetzt 45. Deutschland ist hoffentlich insgesamt toleranter geworden seit Ihrer Kindheit?

Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, als Kinder mit nahöstlichem oder afrikanischem Hintergrund sich nach der Grundschule viel seltener auf dem Gymnasium wiederfanden. Heute sieht man in dieser Generation deutliche Bildungsunterschiede – das hat sich zum Glück ein gutes Stück gewandelt.

Wie war das bei Ihnen persönlich?

Wo Leistungen objektivierbar waren, hatte ich ziemlich gute Noten. Aber die Empfehlung für das Gymnasium kam bei mir trotzdem nicht mit der Selbstverständlichkeit wie bei vielen anderen. Mir kam sehr zu Gute, dass ich Eltern mit einem hohen Bildungsgrad und ein hohes Maß an Selbstbewusstsein habe – und die an entscheidenden Stellen helfen konnten. Was wäre gewesen, wenn ich auch noch aus einem eher bildungsfernen Elternhaus gekommen wäre? Ich weiß nicht, ob ich dann aufs Gymnasium gekommen wäre.

Sie haben gerade von Flüchtlingen gesprochen. Es gibt Sprachwissenschaftler, die sagen, das Wort Flüchtling sei negativ belegt, wegen der „ing“-Endung, ähnlich wie „Schönling“ oder „Schreiberling“. Wie sehen Sie das?

Entscheidend ist letztlich, welche Bedeutung ein Wort in den Köpfen bekommt. Es gibt keinen Automatismus zwischen der Endung „ing“ und einer negativen Konnotation, aber ich sehe den Beitrag, den eine Sensibilisierung des Sprachgebrauchs leisten kann. Wenn man zum Beispiel „Geflüchteter“ sagt, bringt das eine positivere Bedeutung mit sich als „Flüchtling“. Das Entscheidende ist, dass es ungemein wichtig ist, seine Worte auf die Goldwaage zu legen – sich also im Klaren zu sein, was man sagt. Wenn ich denke, beim Hörer kommt es neutraler an, wenn ich Geflüchteter sage, würde ich das tun.

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Wann und wo wirkt Sprache in Deutschland eher integrierend?

Die Hoffnung liegt für mich in der jungen Generation: Da gibt es ein Gruppenphänomen, wo Codewörter aus dem Arabischen oder Türkischen eingebaut werden, wallah, ich schwöre, habibi, Geliebter, oder auch Abi, umgangssprachlich Türkisch für Bruder, was Jerome Boateng in seinem Post nach dem Özil-Rücktritt verwendet hat. Es geht darum, wie viel man von anderen annimmt, der anderen Kultur und Sprache, in beide Richtungen. In vielen Schulen übernehmen Jugendliche Wörter aus anderen Sprachen, das wird selbstverständlicher. Es gibt heute eine größere Bereitschaft zur Diversität.

Andererseits driftet der politische und gesellschaftliche Diskurs nach rechts, Richtung Populismus, Nationalismus, Abgrenzung. Die Sprache wird aggressiver. Die CSU redet von „Asyltourismus“ und „Flüchtlingswellen“ – solche Begriffe setzen sich fest und tragen dazu bei, dass Einwanderung als Bedrohung wahrgenommen wird.

Die Gefahr sehe ich auch, dass einzelne Begriffe sich fest mit Konnotationen verdrahten und unser Bewusstsein verändern, Begriffe, die nichts als Klischees oder Ressentiments sind. Irgendwann sind Begriffe allerdings auch verbrannt. Der Begriff Ausländer zum Beispiel hat sich überlebt – er war zu stark mit einer ausgrenzenden Bedeutung belegt. Er wurde ersetzt durch Migrant. Das Wort „Flüchtling“ wird heute oft mit „illegal“ verbunden – nicht mit: „Menschen in Not“. Der Begriff hat sich ebenfalls verbraucht.

Zur Person

Aria Adli (45) ist seit vier Jahren Professor am Institut für Romanische Sprachwissenschaft und leitet das Sociolinguistic Lab an der Universität Köln. Davor hatte er Professuren an der Berliner Humboldt-Universität und an der Universität Straßburg. Er forscht über den Zusammenhang zwischen Sprach- und Lebensstil – zum Beispiel über die Entwicklung von Alltagssprache und deren Bedeutung für eine Gesellschaft. Der Wissenschaftler, der insgesamt sieben Sprachen spricht, wurde in Köln geboren, seine Eltern kommen aus dem Iran. (red)

Ist die Özil-Debatte ein Beispiel für komplett gescheiterte Kommunikation, in einer Zeit, in der wir uns vor allem auf den sozialen, asozialen Netzwerken begegnen, aber verlernt haben, zu diskutieren? Ist es ein Beispiel für kommunikative Impotenz von allen Seiten?

Es ist sicher ein Diskurs von oben nach unten, der da stattfindet. Mesut Özil soll einem bestimmten Bild des Migranten entsprechen, weil er ein großes, vielleicht zu großes Vorbild sein soll. Ihm würde man nicht zugestehen, dass man sich von ihm abguckt, wie man mit einer solchen von mehreren Nationalitäten geprägten Identität umgehen kann – man gibt stattdessen vor, wie er sich verhalten soll. Das empfinde ich erst einmal als herablassend und zumindest indirekt rassistisch. Aber ich sehe durchaus auch positive Aspekte der Debatte.

Was fällt Ihnen da ein?

Der Fall stößt eine gesellschaftliche Debatte über Integration auf der einen Seite und Rassismus auf der anderen Seite ein, die ich sehr wichtig finde. Über Rassismus wird eher selten gesprochen und geschrieben in Deutschland – ich finde es gut, wenn sich jetzt einige Menschen klarer darüber werden, was das eigentlich heißen kann. Auch, was jeden einzelnen und sein Verhalten betrifft.

Wird in Deutschland zu viel geschwiegen, wenn es um Rassismus geht?

Ich war mit Anfang 20 in Frankreich, für fünf Jahre. Den Umgang mit Diversität und Rassismus habe ich dort ganz anders empfunden. Offener, aggressiver und unverblümter, aber auf eine Art auch viel erträglicher, reinigender. Auch das Wort Rassismus kam vielen viel leichter aus dem Mund.

Brutaler aber vielleicht auch, weil es da in Frankreich schon großen Zulauf für Rechtsextreme und Populisten gab? In Deutschland wird die Sprache auch brutaler gerade…

Vielleicht liegt es auch daran, dass es in Frankreich da schon einen starken Front National gab und zugleich mehr Erfahrung mit ethnischer Vielfalt aufgrund der Geschichte als ehemalige Kolonialmacht. Das Thema war gesellschaftlich auf jeden Fall viel präsenter, auch die jungen Leute waren viel sensibilisierter – und es mischten sich mehr Menschen ein, nicht nur Politiker. Hierzulande halten sich viele lieber zurück, um nicht anzuecken.

In Deutschland ist es wichtig, die Sprache perfekt zu beherrschen, um als „integriert“ zu gelten. Finden Sie das auch wichtig?

Sprachkompetenz ist genau da wichtig, wo sie einem Menschen notwendige kommunikative Fähigkeiten mitgibt. Um soziale Kontakte zu knüpfen, zu arbeiten und so weiter. Aber ich sehe es sehr kritisch, wenn Grammatikfehler oder ab und an falsch verwendete Worte zu massiven Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem führen.

Das ist in den USA anders.

In dieser Hinsicht sind die USA sicher ein leuchtendes Vorbild. Ich habe zweieinhalb Jahre in New York gelebt. Da war die Perfektion der Sprache überhaupt nicht wichtig. Es gibt Viertel, in denen nur Chinesisch oder Russisch geredet wird, es ist aber kein Problem. Es wird dort nicht über eine Angst gesprochen, dass sich Ghettos bilden könnten – die ja eigentlich eine Angst ist, dass sich Gesellschaft verändert. Eine „perfekte Sprache“ braucht man eigentlich nur, wenn sie immanenter Teil der Aufgabe in der Schule oder auf der Arbeit ist.

Ist der Anspruch, möglichst gut die Landessprache zu beherrschen, also ein deutsches Phänomen?

Es ist ganz typisch für den europäischen Kontinent, der historisch so gewachsen ist, dass viel von der Mehrsprachigkeit in einzelnen Ländern ausradiert wurde. Der europäische Sprachraum ist eher eine Monokultur – in Großstädten wie Köln ist das zum Glück etwas anders.

Aber je besser ich Sprache beherrsche, desto besser fühle ich mich auch integriert, oder nicht?

Das kann, muss aber nicht sein. Und: Wer definiert eigentlich, ob man gut spricht? Manche sagen vielleicht, Sprachwissenschaftler, Deutschlehrer, oder Journalisten? Ich will aber gar nicht, dass es so eine Autorität gibt. Was gutes Sprechen heißt, sollte in der Mitte der Gesellschaft ausgehandelt werden, in Schulen, Kindergärten und auf der Straße.

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