Kölnerin fertigt Ersatzteile für das Gesicht„Glaubst du, die neuen Ohren stehen mir?“

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Meike Anders passt Sonja Kühn die Silikon-Ohren an.

Köln – Sonja Kühn ist 39, als sie das erste Mal in ihrem Leben ihre Ohren berührt. Sie liegen auf ihrer ausgestreckten Hand. Behutsam fährt sie mit dem Finger über die zwei adrigen Ohrmuscheln aus Silikon. An der Stelle, an der bei anderen Menschen Ohren wären, bohren sich bei ihr sieben runde Magnetzapfen in den Schädel. Heute ist für sie ein ganz besonderer Tag: Sie darf ihre Epithesen, auf die sie ein Jahr lang gewartet hat, mit nach Hause nehmen.

Die erste Person, die Sonja wegen ihrer Ohren auslachte, war ein Mädchen aus der benachbarten Grundschule mit hellen Haaren und einem grünen Pullover, daran erinnert sie sich noch genau. Auch an die Wut und Verzweiflung, die sie damals gefühlt hat. Durch einen Geburtsdefekt fehlen Sonja die Ohren, ohne Hörgerät ist sie praktisch taub. Und obwohl sie eine Schule für Schwerhörige besuchte, gab es immer irgendwen, der sie wegen ihrer Behinderung hänselte. „Kinder sind gnadenlos gemein“, sagt Sonja mehrfach.

Manchmal fällt auf, dass da im Gesicht etwas fehlt

Vielleicht trägt Sonja Kühn deshalb ihre Haare so, dass niemand ihren Gehörgang sehen kann. Zugeben würde sie das aber nicht. Sie klemmt sich ihre schulterlangen braunen Haare eng unter die Riemen ihrer Maske. Sieht aus, als hätte sie einen Helm auf. Sonja arbeitet als Arzthelferin in der Blutspendezentrale der Uniklinik Düsseldorf. Manchmal fällt trotz der Frisur jemandem auf, dass ihr da im Gesicht etwas fehlt. Dann reagiere sie gelassen und beantwortet jede Frage. „Schon okay“, versichert sie, das sei sie gewohnt und darüber nachdenken würde sie schon lange nicht mehr. Ihre Augen blicken starr.

Die Frau, die Sonja dabei helfen wird, die Spuren ihrer Behinderung zu verdecken, hat krauses Haar und ein verschmitztes Lächeln. „Nu kommen se erstmal rein“, sagt Meike Anders, die schon seit 23 Jahren als Epithetikerin arbeitet. Sie nimmt ihren Besuchern die Jacke ab und föhnt dem Fotografen die beschlagene Brille trocken. Der Altbau am Rande von Köln-Mehrheim ist gleichzeitig Arbeitsplatz für vier Mitarbeiterinnen und das Zuhause ihrer Familie. In der Einfahrt parkt ein Wohnmobil und im Flur hängen Lichterketten und ein großes, selbstgemaltes Bild ihrer Kinder.

Bei Epithesen geht es um die Ästhetik

Anders fertigt künstliche Ersatzteile für das Gesicht, sogenannte Epithesen. Da, wo plastische Chirurgen an ihre Grenzen stoßen, springt sie ein. Ihren Patienten fehlen Augen, Ohren, Nase oder Finger, verursacht durch Krebs, einen Unfall oder Geburtsfehler. Anders als bei Prothesen geht es weniger darum, einen Körperteil in seiner Funktion zu ersetzen. Es geht um die Ästhetik und den sozialen Aspekt. Denn gerade Defekte im Gesicht können einen großen Einfluss auf die Psyche haben. Betroffene schämen sich, fühlen sich unwohl im Kontakt mit anderen, neigen zur Isolation. Epithesen werden angefertigt und auf das Gesicht oder den Körper aufgesetzt. Befestigt werden sie mit Magneten, Druckknöpfen oder auch Klebstoff.

So lassen sie sich anlegen, aber auch wieder abnehmen. Fast wie ein Kleidungsstück. Sie können aus Glas sein, aus Gummi, Metall oder Kunststoff. In jedem Fall sind sie für ihre Trägerinnen und Träger so etwas wie die Erfüllung eines Versprechens: Was auch immer dir widerfahren ist, du kannst so aussehen wie alle anderen auch. Meike Anders ist die gute Fee für etwa 350 Patienten. Sie und ihr Team fertigen in mühsamer Feinarbeit bis zu 90 Epithesen im Jahr. Jede davon wird individuell an den Patienten angepasst.

In der Ecke liegen Finger, Nasen, Augen

Das Behandlungszimmer ist klein und erinnert eher an ein Atelier, es riecht nach Gummi, Desinfektionsmittel und Farbe. Sonja Kühn war schon ein paar Mal hier und lässt sich in einen kantigen Sessel fallen. In der Ecke steht eine große Kühltruhe mit Silikonen, in einer anderen Ecke liegen Finger, Nasen und Augen in verschiedenen Hautfarben. Anders` weiße Schürze sieht aus, als hätte sie mit Makeup in verschiedenen Nuancen gekleckert: Porzellan, beige, apricot. Die zwei künstlichen Ohrmuscheln für Kühn werden in drei bis vier mehrstündigen Sitzungen gefertigt. Alle anderen Epithesen sind noch aufwendiger.

Eine Blutspenderin hatte Sonja Kühn zufälligerweise von den Epithesen ihrer Schwester erzählt. Also machte sie sich schlau. Ihr eigener Hals-Nasen-Ohren-Arzt wusste von nichts und riet ab. Eine Zeit lang dachte Kühn über eine Ohrmuschel-Rekonstruktion nach, doch die Anzahl der nötigen Operationen hat sie abgeschreckt. Sieben auf jeder Seite. Sie tippt sich an den Kopf. „Das tue ich mir doch nicht an.“

Magnete werden in den Schädel gepflanzt

Die Vorstellung, mit normalen Ohren durch die Gegend zu laufen, hat sie irgendwann nicht mehr schlafen lassen. Und so nahm sie Kontakt zu Meike Anders auf. Im August 2021 wurden Kühn schließlich sieben Magnete in den Schädel gepflanzt. Sie sollen die neuen Ohren festhalten. Anders war bei der Operation dabei, um die Ärzte zu beraten. Das ist üblich und notwendig, damit die Ärzte die richtigen Stellen im Knochen finden.

In ihrem Behandlungszimmer rührt Anders transparentes Silikon an, das später in die Form gegossen wird. Dann öffnet sie eine Schublade mit verschiedenen Flaschen und Tiegeln. „Sind sie immer so braun?“  fragt Anders ihre Patientin, und mischt das Silikon vorsichtig mit etwas Farbe. Sonja Kühn geht zwar gerne ins Solarium, im Winter ist die Haut aber immer etwas blasser, außerdem trägt sie die Haare lang, also bleibt die Epithese hell.

Die Ohren müssen aushärten

Die Epithetikerin arbeitet rote Stoffasern in das Modell ein, die Blutgefäße simulieren sollen. Gelbe Farbe kommt auf die Stellen, die mal wie Knorpel aussehen sollen. Jetzt heißt es zwei Stunden warten. Die Ohren müssen aushärten.

Anders hat Patienten, die schon seit 20 Jahren zu ihr kommen. „Wir altern gemeinsam“, sagt sie lächelnd. „Modelle anzupassen dauert einige Stunden, da lernt man sich wirklich gut kennen.“ Viele Partner würden den Anblick ihrer Liebsten ohne Epithese nicht ertragen. „Ich bin manchmal die einzige Person die weiß, was sich unter der Epithese verbirgt. Das ist etwas sehr Intimes.“

In der Pause kommen die Zweifel

In der zweistündigen Pause setzt sich Sonja in ein Café und versucht zur Ruhe zu kommen „Glaubst du, die neuen Ohren werden mir stehen?“, fragt sie. „Glaubst du, das wird gleich wehtun?“ Eigentlich war sie ganz sicher, dass sie diese Epithesen haben möchte. Jetzt kommen die Zweifel. Aber: „Wenn sie mir nicht gefallen, dann hab ich ja nichts verloren. Dann pfeffere ich sie einfach in eine Ecke und dann ist das Thema Ohren für immer vorbei“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Ich weiß gar nicht, warum ich das unbedingt wollte, ich fühle mich doch auch ohne Ohren vollständig“, sagt sie auch.

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Doch dann erinnert sie sich an die Momente, in denen sie daran erinnert wird, dass sie anders ist. Immer, wenn sie jemanden mit schönen Ohrringen sieht, schaut sie weg. „Es ist komisch, etwas herbeizusehnen, das ich noch nie hatte. Verstehen tut mich aber niemand, denn jeder hat das, was mir fehlt.“

Eine Epithese kann mehrere tausend Euro kosten, nach der Zustimmung eines Gutachters übernimmt die Kosten aber die Krankenkasse. Das Silikon wird nach einiger Zeit porös und verfärbt sich, also muss ungefähr alle zwei Jahre eine neue Epithese her. Lange gab es keine zertifizierte Ausbildung, seit 2010 können sich nun aber Zahntechniker oder Personen aus vergleichbaren Berufen in drei Jahren zum Epithetiker ausbilden lassen. Epithesen gibt es schon seit vielen Jahren, erst aus Porzellan, Gips oder Gelatine. Heute wird meist modernes, langlebiges Silikon verwendet, das sich an die Haut anpasst.

Kühn sieht sofort: Die Ohren sind nicht dunkel genug

Meistens zumindest. „Mit Epithesen verhält es sich ein bisschen wie mit einem Überraschungsei, man weiß nie, was am Ende dabei herauskommt“, sagt Anders, während sie die nun ausgehärteten Silikonohren vorsichtig von ihrer Form befreit. Die Ränder sind hauchdünn, damit der Übergang von Silikon zur Haut so unauffällig wie möglich ist und sie die Bewegungen der Haut aufnehmen. Sonja Kühn erkennt sofort, dass ihre neuen Ohren nicht dunkel genug sind, also wird noch einmal nachgefärbt. Ansonsten sehen sie täuschend echt aus. „Ein bisschen gruselig“, sagt Sonja.

Während Sonja nervös mit den Füßen wippt und auf den Boden starrt, setzt Anders die Epithesen vorsichtig auf die Magnete. Sie halten. Dann rollt sie mit ihrem Stuhl nach hinten, um ihr Werk zu betrachten und kramt einen Spiegel aus einer Schublade. Sonjas Augen werden groß, als sie sich darin sieht. Ganz vorsichtig tastet sie die Ohren ab.

Weiche Zahnbürste und Spülmittel für die Reinigung

Plötzlich stößt das Silikon an ihr empfindliches Hörgerät. Sie verzieht das Gesicht und versucht panisch, die Epithesen abzuziehen. Das Kreischen des Hörgeräts hallt durch den Raum. Die linke Ohrmuschel trennt sich mühelos von den Magneten, die rechte klemmt. Sofort ist Anders zur Stelle und zeigt ihr, in welchem Winkel man die Magnete am einfachsten löst, ohne das Hörgerät zu stören. Nach einigen Versuchen klappt es auf beiden Seiten. Das Hörgerät gibt Ruhe. Anders berät ihre Patientin noch zur Pflege der Haut und der neuen Ohrmuscheln. Vaseline, damit nichts scheuert, eine weiche Zahnbürste und Spülmittel für die Reinigung.

Mit den neuen Ohren kann Kühn jetzt sogar schwimmen gehen. Nachteile gibt es aber auch: Am Flughafen muss sie einen Pass vorzeigen, der beweist, warum sie Metall in ihrem Körper hat. Und vor einem MRT-Scan muss sie wieder ins Krankenhaus, um sich die Magnete herausschrauben zu lassen.

„Die Schmerzen und Sorgen haben sich wirklich gelohnt“, sagt Kühn und bedankt sich bei Meike Anders. „Bis so in zwei Jahren.“ Zum Abschied winkt Kühn und streicht sich ihre Haare hinter die Ohren. Später schickt sie ein Selfie, auf dem sie zwischen ihren neuen Ohren breit lächelt. Sie sagt, es sei ihr erstes Selfie seit sehr langer Zeit.

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