Kölnerin von Kreißsaal abgewiesen„Ich dachte, ich bekomme mein Kind auf dem Sofa“

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Swantje Klemm-Mayer lebt mit ihren beiden Töchtern und ihrem Partner im Agnesviertel.

Köln – Den Beginn ihrer zweiten Geburt erlebt Swantje Klemm-Mayer in Panik. Die 37-jährige Kölnerin plagen schon Wehen, als das Heilig-Geist-Krankenhaus in Longerich ihr mitteilt, dass man sie nicht aufnehmen kann. Vor Wochen hatte Klemm-Mayer sich dort angemeldet. Jetzt sind alle vier Kreißsääle voll. „In Köln können sie die Geburt vergessen“, sagt ihr eine Hebamme am Telefon.

Sie solle es in Leverkusen oder Dormagen probieren. Die Hebamme springt ein und beginnt selbst Klinik um Klinik abzutelefonieren. „Da war bei mir die Panik groß, weil ich dachte ich bekomme mein Kind gleich auf dem Sofa“, so Klemm-Mayer.

Die Abstände werden kürzer, die Wehen stärker. Auch Bergisch Gladbach, Dormagen und Leverkusen sagen ab.

Die Fahrt nach Neuss ist eine Tortur

Um 12.30 Uhr schließlich steigen Klemm-Mayer und ihr Partner ins Auto. Eine Klinik in Neuss hat noch Platz. Für die Schwangere ist die Fahrt eine Tortur. „Die Wehen waren inzwischen sehr stark. Die Erschütterungen auf der Autobahn unerträglich“, sagt sie.

40 Minuten Autofahrt später erreicht das Paar das Krankenhaus. Vor Ort irren sie durch das für sie fremde Gebäude und finden den Kreißsaal zunächst nicht. Dort angekommen sind die Wehen bereits alle drei Minuten da.

Geburten sind für Kliniken unrentabel

Das Problem schwellt seit Jahren: Im Jahr 1991 gab es in Deutschland noch 1186 Kliniken die Entbindungen durchführen. 2017 waren es noch 672. Nordrhein-Westfalen verzeichnet für den Zeitraum von 2010 bis 2017 einen Rückgang von 45 Prozent und ist damit eins der am stärksten betroffenen Bundesländer. „Die Geburtshilfestationen befinden sich in einer ständigen Abwärtsspirale“, sagt Barbara Blomeier, Vorsitzende des Landesverbands der Hebammen NRW. Der schlichte Grund: Geburten sind für Kliniken kein gutes Geschäft.

Seit 2004 müssen Kliniken Gesundheitsleistungen über Fallpauschalen abrechnen. Zusätzliche Eingriffe und Behandlungen bringen dem Krankenhaus mehr Einnahmen. Eine „ganz normale“ Geburt, die ohne Kaiserschnitt und technische Hilfe auskommt, rentiert sich hingegen nicht. Sie bindet Personal und Ressourcen über Stunden oder Tage, während beispielsweise ein Kaiserschnitt in 30 Minuten vorbei ist – und der Kreißsaal wieder frei.

Bei der Befragung für das Krankenhaus Barometer 2020 gaben 65 Prozent der befragten Kliniken an, dass der Bereich Geburtshilfe nicht kostendeckend sei. Vor allem kleine Kliniken, die auf unter 500 Geburten pro Jahr kommen, können dieses Minusgeschäft nicht auf Dauer tragen. Zwischen 2010 und 2017 haben 107 dieser kleinen Kliniken ihre Geburtsstationen geschlossen – ein Anteil von rund 82 Prozent an allen Schließungen.

Kliniken melden Schließungen nicht öffentlich

Seit 2015 dokumentiert der Deutsche Hebammenverband, wie viele Kreißsäle im Land jedes Jahr schließen. Wegen Personalmangel, Unwirtschaftlichkeit, Krankheitsausfall. Die Übersichten basieren auf eigenen Recherchen und sind entsprechend nur ein Anhaltspunkt, um die Situation zu erfassen.

Für NRW wurden in den letzten sechs Jahren insgesamt 30 Kreißsääle als geschlossen, vorübergehend geschlossen oder von Schließung bedroht ausgewiesen. Der Landesverband Hebammen NRW erklärt, man erfahre von Schließungen nur durch Mundpropaganda oder Medienberichte. Kliniken würden damit kaum von sich aus an die Öffentlichkeit gehen, so die Vorsitzende des Verbandes Barbara Blomeier.

Mangelnde Transparenz trifft Patientinnen

Die mangelnde Transparenz trifft auch die Patientinnen. Von den Kliniken sei immer die Ansage gewesen, man solle nicht bei der ersten Wehe losfahren, sondern ruhig bleiben und abwarten, sagt Klemm-Mayer. Sie versteht das - es bringe ja nichts, wenn sich die Frauen vor den Kliniken stapeln. Aber wenn die Gefahr bestehe, keinen Platz in einem Kreißsaal zu finden, hätte sie das wissen müssen. „Wäre ich früher losgefahren, hätte ich mir Stress erspart“, sagt sie.

Um die Ecke liegt für Swantje Klemm-Mayer das St. Vinzenz-Hospital in Köln-Nippes. 2017 schloß das Haus die Geburtsstation. Über 40 Mitarbeiter verloren ihren Job. „Die Geburten sind nicht das Problem, sondern der Rückgang bei den gynäkologischen Operationen“, äußerte sich damals Sprecherin Susanne Bieber zu den Gründen. In Longerich verzeichnete man in der Gynäkologie und Geburtshilfe steigende Patientenzahlen, die Geburtshilfe im St. Vinzenz hingegen habe sich nicht mehr gelohnt.

Man habe sich darum auf den Standort Longerich konzentriert und diesen „sehr erfolgreich ausgebaut“. Ende 2016 waren dort vier neue Kreissääle gebaut worden. Ob der Ausbau den Wegfall der Geburtshilfe in Nippes aufgefangen hat lasse sich „nicht 1:1 rechnen“, so Susanne Bieber zur aktuellen Situation. Die Geburtshilfe im Heilig Geist-Krankenhaus biete den Schwangeren mehr Möglichkeiten, weil sie spezialisierter aufgestellt sei. Bieber sieht das als Vorteil.

Hochspezialisierte Kliniken sind Problem für Ausbildung von Hebammen

Seit Monaten sorgt auch die schrittweise Auflösung der Klinik Holweide für Debatten. Einzelne Bereiche des Krankenhauses sollen nach Merheim verlegt werden. „Die Geburtsklinik ist hiervon keinesfalls betroffen. Sie wird kurz- und mittelfristig weder geschlossen, noch umziehen, denn das Krankenhaus Merheim hat keine Geburtsklinik“, so Sprecherin Sigrid Krebs.

„Vielmehr ist die Perinatalstation am Krankenhaus Holweide, die dem Level-1-Status entspricht – die höchste medizinische Versorgungsstufe von Frühchen und Mehrlingsgeburten – noch in diesem Jahr nach großen Investitionen hausintern umgezogen und deutlich vergrößert worden“.

Die Kliniken in Holweide und Nippes haben ihre Bereiche für Schwangere mit besonderen Bedürfnissen ausgebaut. Für Barbara Blomeier liegt darin ein Problem: Der Hebammennachwuchs könne das Handwerk nicht nur an Spezialfällen lernen.

„Die Studierenden lernen den Beruf nicht, wenn sie nur Risikopatienten betreuen. Sie brauchen neben den großen Zentren mit einem hohen Anteil an Risikogeburten die kleinen Abteilungen mit überwiegend unauffälligen Geburten. Die Fokussierung auf sehr spezialisierte Zentren ist für den Nachwuchs nicht förderlich“, sagt Blomeier.

Hebammen sind nicht mehr bereit in Kliniken zu arbeiten

Aktuell habe man die paradoxe Situation, dass die Zahl an Mitgliedern im Verband - also fertig ausgebildeten Hebammen – steige, aber die Personaldecke in den Kliniken trotzdem immer dünner werde. Es gibt also keinen Mangel an Hebammen. Aber immer weniger von ihnen sind bereit, Vollzeit in einer Klinik zu arbeiten.

„Fast die Hälfte aller Krankenhäuser mit einer geburtshilflichen Abteilung hat ein Problem, offene Stellen zu besetzen. Im Vergleich zu 2014 hat sich somit der Anteil der Häuser mehr als verdoppelt, in welchen offene Stellen für fest angestellten Hebammen nicht besetzt werden können“, heißt es im Krankenhausbarometer 2020.

Im Jahr 2018 waren 9.487 Hebammen in Kliniken fest angestellt. 6.830 arbeiteten in Teilzeit oder waren geringfügig beschäftigt. Viele der Angestellten in den Kliniken bräuchten nebenbei eine Freiberuflichkeit, um die Zustände in den Krankenhäusern durchzustehen, berichtet Blomeier aus dem, was ihr Hebammen erzählen.

Durchschnittlich kümmert sich eine Hebamme während der Schicht um drei Frauen gleichzeitig. Bei überdurchschnittlich viel Betrieb auch mehr. Empfohlen wird von einer Mehrheit der Hebammen aber eine 1:1 Betreuung. „Die Angst, in der Hetze etwas zu übersehen, ist dann ständig dabei“, so Blomeier.

Geburtshilfe eigene Leistungsgruppe im Krankenhausplan NRW

Dazu kommt der wirtschaftliche Druck auf die Krankenhäuser, was zu teils bizarren Situationen im Alltag der Hebammen führt. „Um zu sparen, verzichten manche Kliniken auf den nächtlichen Putzdienst. Das muss man sich dann so vorstellen, dass die Hebamme zwischen den Geburten mit Zahnbürste und Putzlappen versucht das Blut aus den Ritzen im Entbindungsbett zu schrubben“, so Blomeier.

Bis vor einiger Zeit habe unter den Hebamme noch der Geist geherrscht, der Situation gemeinsam zu trotzen. Aber inzwischen geben viele auf.

Barbara Blomeier hofft, dass ich mit dem neuen Krankenhausplan NRW, den das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales seit Ende 2019 federführend erarbeitet, etwas ändert. Sie fordert, dass die Geburtshilfe darin als gesonderte Leistungsgruppe ausgewiesen ist. Mit eigener Bedarfsplanung, festgelegten Qualitätskriterien und orientiert an regionalen Bedarfen. Das Gesundheitsministerium NRW scheint dafür grünes Licht zu geben.

Man müsse die wohnortnahe Versorgung für unkomplizierte Geburten gewährleisten, genauso wie es ein spezielles Angebot für Frühchen und Notfälle brauche, heißt es vom Ministerium. Und weiter: „Die entsprechende Aufteilung in mehrere Leistungsgruppen innerhalb der beiden Leistungsbereiche Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie Neonatologie trägt diesen unterschiedlichen Anforderungen Rechnung“.

„Ich hab mich sehr allein gelassen gefühlt“

Eine Hebamme hätte Swantje Klemm-Mayer in den schwierigen Stunden vor der Geburt ihrer Tochter Ängste und Schmerzen nehmen können. Aber die 37-Jährige und ihr Partner waren auf sich gestellt.

Das Paar hatte keine Hebamme für die Zeit vor und nach der Geburt finden können. „Irgendwann habe ich aufgegeben. Aber in dem Moment dachte ich, jetzt habe ich kein Krankenhaus und keine Hebamme. Im schlimmsten Fall hätte sie zu Hause helfen können. Ich hab mich sehr allein gelassen gefühlt“, sagt Klemm-Mayer.

Ihr Glück waren die Longericher Hebamme, die ihr die Suche nach einem Kreißssaal abnahm und sie in Neuss anmeldete und die Hebamme, die sie dort erwartete. Die habe ihr die Panik und Überforderung angemerkt, sie mütterlich empfangen, angefeuert – und nur 45 Minuten später gemeinsam mit ihr ihre zweite Tochter zur Welt gebracht.

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