Mariele MillowitschVorleserin mit leuchtenden Augen

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Schauspielerin Mariele Millowitsch liest ausdrucksstark in der Bibliothek der Anna-Freud-Schule aus „Der kleine Mann“ von Erich Kästner.

Schauspielerin Mariele Millowitsch liest ausdrucksstark in der Bibliothek der Anna-Freud-Schule aus „Der kleine Mann“ von Erich Kästner.

Müngersdorf – Erich Kästner und Mariele Millowitsch sind ein Traumpaar – jedenfalls wenn es darum geht, Geschichten zu erzählen. Der vor 40 Jahren verstorbenen Schriftsteller hat zauberhafte Texte verfasst. Die Schauspielerin weiß sie perfekt zu erzählen. In der Bibliothek der Anna-Freud-Schule sitzt sie an einem Pult mit Blick auf die Zuhörer der siebten Klassen. Ihre großen Augen leuchten wie die des Kindes, das sie war, als sie Kästners Geschichten für sich entdeckte. Mit warmer Stimme liest sie seine humorvolle Erzählung von einem Jungen, der nicht nur klein ist, sondern ganz besonders klein.

Besonders winziger Vertreter

Denn Mäxchen, Hauptfigur des Romans „Der kleine Mann“, stammt von dem zwergwüchsigen Volk der Pichelsteiner ab und ist ein besonders winziger Vertreter seiner Art. Leider kommen seine Eltern, die sich als Artisten bei einem Zirkus verdingt hatten, bei einem Unfall ums Leben, als Mäxchen sechs Jahre alt ist. Von da an kümmert sich der Zirkuszauberer Professor Yokus Pokus liebevoll um den Winzling. In der Schule wird er von den anderen Kindern wegen seiner Körpergröße gehänselt.

Deswegen unterrichtet Yokus Pokus den Jungen, der in einer Streichholzschachtel schläft und Bücher liest, die auf Briefmarken geschrieben sind, von nun an selbst. Die Privatstunden laufen erfolgreich – bis zu dem Tag als die Frage im Raum steht, was Mäxchen werden soll. Für den Jungen steht fest: „Ich werde Artist.“ „Aber dafür bist du doch viel zu klein“, mahnt sein Ziehvater. „Du redest mal so, mal so“, schimpft Mariele Millowitsch als Mäxchen, aufmüpfig mit hoher Stimme. Und so nimmt ein Dialog seinen Verlauf, der fast ein wenig an Meister Eder und seinen Pumuckl erinnert: „Du sagst doch immer, dass lange Menschen selten große Menschen sind. Sie schießen ins Kraut, und für ihr Gehirn bleibt nichts mehr übrig“, argumentiert Mäxchen gewitzt.

Die Schüler glucksen belustigt. Die Schauspielerin aber hat nicht etwa ein besonders lustiges Kapitel ausgesucht, sondern das Buch einfach von der ersten Seite an gelesen. „Ich ziehe das von vorne durch, bis jemand Halt ruft“, hatte Mariele Millowitsch vorher gewarnt. „Es ruft keiner. Wollt ihr noch weiter hören?, fragt sie nach dem vierten Kapitel. „Ja“, antworten die Schüler einhellig – zumindest fast. „Nein, ich bin müde“ sagt ein Junge. „Dann schlaf doch was“, schlägt Millowitsch vor. Der Junge tut wie geheißen und lässt seinen Kopf auf die Knie sinken – während die Kinder wieder ihre Ohren spitzen. Die Leiterin der Bibliothek, Doris Wechsler, wartet derweil schon ein wenig nervös mit dem Blumenstrauß für die Schauspielerin, denn die Lesestunde ist eigentlich vorbei. „Ich bin absoluter Kästner Fan. Ich habe jedes seiner Bücher gelesen. Der kleine Mann ist mein Lieblingsbuch“, erzählt Millowitsch.

Privater Kontakt

Die Geschichte passt allerdings besonders gut an den Veranstaltungsort. An der Anna-Freud-Schule lernen Kinder mit verschiedenen Körperbehinderungen, chronischen sowie psychosomatischen Erkrankungen. Und im letzten Kapitel, das Mariele Millowitsch an diesem Tag vorliest, erfahren sie, dass Mäxchen doch noch Artist werden darf, nicht obwohl er so klein ist, sondern gerade deswegen. Da hat der Professor verstanden, dass es nicht nur eine Menge Dinge gibt, die der winzige Junge nicht kann – sondern auch solche, die nur er beherrscht. Die Journalistin Ingeborg Prior, die an der Schule ehrenamtlich als Lesementorin tätig ist, hatte die Schauspielerin über einen privaten Kontakt für die Lesung gewinnen können.

Kästners liebevoller Blick auf die Menschen und ihre Besonderheiten stößt an der Anna-Freud-Schule auf offene Ohren. Mariele Millowitsch trifft dort auf echte Fans. Ein Junge bittet sie um ein Autogramm. „Oh, nein. Die Autogrammkarten habe ich nicht dabei. Die werde ich sonst nie los“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. Erich Kästner hätte sie gemocht.

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