„Der Sozialstaat versagt“Kölnerin Claudia Pinl kritisiert den Umgang mit dem Ehrenamt

Lesezeit 4 Minuten
Claudia Pinl, Fraktionsvorsitzende der Grünen in Lindenthal

Claudia Pinl, Fraktionsvorsitzende der Grünen in Lindenthal

  • Claudia Pinl, geboren 1941 in Augsburg, ist Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Bezirksvertretung Lindenthal.
  • Sie arbeitet neben ihrem Engagement als Bezirkspolitikerin, als Dozentin, Journalistin und Buchautorin in Köln.

Köln-Lindenthal – Frau Pinl, mit ihrem Buch „Ein Cappuccino für die Armen“ kritisieren Sie die „Spenden- und Ehrenamtsökonomie“, wie in der Unterzeile zu lesen ist. Was genau sehen Sie an einem Ehrenamt kritisch?

Es gibt klassische Ehrenämter, so wie ich als Bezirkspolitikerin eines ausübe, oder in den Rettungsdiensten, im Sport- und Freizeitbereich und den Karnevalsgesellschaften. Das ist natürlich etwas anderes als die ehrenamtliche Mitarbeit bei den Tafeln, der Obdachlosen- oder der Flüchtlingshilfe. Das sind Bereiche, die in dem Ausmaß, wie sie heute durch Ehrenamtler ausgefüllt werden, neu sind – meine Kritik richtet sich gegen Letzteres. Ich will natürlich nicht die Ehrenamtler und ihr Engagement kritisieren.

Was genau sehen Sie denn kritisch?

Hauptkritikpunkt ist, dass der Sozialstaat seit 30 Jahren Dienste und öffentliche Daseinsvorsorge einspart. Ich denke da zum Beispiel an den Pflegebereich, wo mittlerweile sehr viel Zeit für Dokumentation anfällt, die Pflege selbst in einem sehr eng getakteten Zeitrahmen verrichtet werden muss. Arbeitsinhalte, die früher zum Kompetenzbereich der Pflegekräfte gehörten, wie den Menschen zuzuhören und mit ihnen zu sprechen, das ganze Zwischenmenschliche, wird an Ehrenamtliche delegiert. Das, was vorher Teil der Erwerbsarbeit war, zur öffentlichen Daseinsvorsorge und zu den staatlichen Ausgaben gehörte, wird eingespart.

Der Staat spart also auf Kosten der Bürger?

Vor allem auch auf Kosten der Menschen, für die diese Dienste gedacht sind. Mir fallen da unterschiedliche Beispiele ein, wie die „Bürgerbusse“ in ländlichen Gebieten, wo früher der öffentliche Personennahverkehr über die Dörfer fuhr. Das rentiert sich nicht mehr, seit die Verkehrsbetriebe privatisiert wurden. Jetzt sitzen die Leute, die kein eigenes Auto haben, auf dem Dorf und kommen nicht weg. Also hatte man die Idee, dass Ehrenamtler mit Bürgerbussen die Menschen fahren. Da spart die öffentliche Daseinsvorsorge zu Unrecht.

Wie kommt ein wohlhabendes Land zu so einem Sparkurs?

Seit den 80er Jahren ist von Regierungsseite immer wieder die Rede vom „schlanken Staat“. Es heißt, wir müssten sparen, der Sozialstaat sei zu teuer. Private Dienstleister seien besser als staatliche und billiger seien sie auch. So wurden öffentliche Dienste abgebaut. Sehr viel davon wurde auf Ehrenamtliche übertragen. Auch in Bereichen, wo eigentlich gut ausgebildete Fachkräfte gebraucht würden, beispielsweise in der Flüchtlingshilfe, wo sich die Helferinnen und Helfer nicht selten um sc hwer traumatisierte Menschen kümmern. Oder auch die Ehrenamtler, die versuchen, zwischen den geflüchteten Menschen und der deutschen Bürokratie zu vermitteln. Welcher normale Bürger kennt sich damit schon aus? Da geht es um unverständliche Verwaltungsvorlagen, die auch Menschen, die hier aufgewachsen sind, nicht ohne weiteres verstehen.

Gibt es konkrete Beispiele aus Ihrem Stadtbezirk Lindenthal?

Mein Lieblingsbeispiel ist der Klettenbergpark. Ein Anwohner hat im „Kölner Stadt-Anzeiger“ in einem Leserbrief beschrieben, wie in den 60er Jahren noch städtische Gärtner sich um das Rosenbeet dort kümmerten. Deren Stellen wurden irgendwann eingespart. Dann wurden die Rosen herausgerissen, weil das Grünflächenamt nun nicht mehr genug Personal hatte. Bürger aus Sülz und Klettenberg haben sich dagegen gewehrt und mit der Stadt einen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen, in dem sie sich für sechs Jahre verpflichteten, sich um das Beet zu kümmern, wenn die Stadt die Rosenstöcke wieder einpflanzt. An diesem Beispiel sieht man, wie Arbeitsplätze eingespart werden, indem Ehrenamtliche die Arbeit übernehmen.

Gibt es ein besonders drastisches Beispiel?

Ein eklatantes Beispiel für das Versagen des Sozialstaats ist in meinen Augen der Kalker Kindermittagstisch. Viele Eltern haben nicht genug Geld, um das Schul-Mittagessen für ihre Kinder zu bezahlen. Und umsonst gibt es das auch nicht, weil die Stadt oder die Schulträger ja auch sparen. Also werden die hungrigen Kinder von Ehrenamtlichen bekocht. Dabei ist Deutschland eines der reichsten Länder der Welt.

Wann und warum ist denn die öffentliche Daseinsvorsorge abgebaut worden?

Seit einigen Jahrzehnten herrscht die Vorstellung, man müsse die Menschen aus der Abhängigkeit vom bürokratischen Sozialstaat befreien, müsse sie zu mehr Selbsttätigkeit und Verantwortung für ihr unmittelbares Umfeld und darüber hinaus für die ganze Gesellschaft animieren. Reformen wie die „Hartz“-Gesetze sind dafür ein vielzitiertes Beispiel mit ihrem Grundsatz von „fördern und fordern“. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder betonte dabei immer gern, wenn die Bürger sich mehr selbst kümmerten, erarbeiteten sie sich damit auch ein Stück Demokratie.

So wird eine Vorstellung von einer partizipativen Gesellschaft geschaffen, aber in Wahrheit bedeutet Partizipation in diesem Sinn, dass die Bürger vieles selbst machen müssen. Das wird in ein demokratisches Mäntelchen gehüllt. So als sei es ein Beitrag zur Demokratie, wenn Bürger und Bürgerinnen Rosengärten in städtischen Anlagen eigenhändig pflegen. Dahinter mache ich aber ein ganz großes Fragezeichen.

Claudia Pinl, Ein Cappuccino für die Armen, Kritik der Spenden- und Ehrenamtsökonomie, Papyrossa Verlag, 159 Seiten, erschienen im September, ISBN 978-3-89438-677-1

KStA abonnieren