Tag des Guten LebensDas scheinbar Unmögliche tun

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Davide Brocchi erläuterte das Konzept des autofreien Tags.

Davide Brocchi erläuterte das Konzept des autofreien Tags.

Sülz – Am Ende des dreistündigen Nachbarschaftstreffens im Schiller-Gymnasium war die Stimmung unter den Anwesenden geradezu euphorisch. „Der Stadtteil wird sich von innen nach außen stülpen!“, prophezeite etwa ein Mann begeistert. Verteilt auf mehrere Tischrunden, sammelten rund 140 Sülzer Bürger zunächst Ideen für den geplanten Tag des guten Lebens Ende September. Anschließend debattierten sie, ebenfalls in Arbeitsgruppen, über Themen wie Mobilität oder den Wunsch nach mehr Grün im Viertel. Danach schien es, als hätte sich in den Köpfen ein Schalter umgelegt. Einfach mal das schier Unmögliche denken. Es ist ein Bild, das einem im Alltag gar nicht mehr auffällt: Autos parken überall. Stoßstange an Stoßstange reihen sie sich aneinander wie Perlen einer Kette, säumen die Gehwege, besetzen Plätze. Meistens blendet man den Anblick einfach aus, guckt über die Blechkisten hinweg. Was aber wäre, wenn. Wenn die Autos komplett verschwunden wären, die geparkten und die fahrenden. Die Bürgersteige wären frei, die Straßen sowieso. Alles leer. Gähnende Leere. Und: Stille.

Autofreier Tag des guten Lebens

Eine irritierende Vorstellung, im Grunde Utopie. Die im vergangenen Jahr – fast – wahr wurde, in Ehrenfeld, beim autofreien Tag des guten Lebens. Der war ein solcher Erfolg, dass die Idee – von dem Sozialwissenschaftler Davide Brocchi 2012 in die Welt gesetzt – jetzt Schule macht. 2014 finden in Köln sogar zwei Tage des guten Lebens statt: Am 31. August gibt’s die Wiederholung in Ehrenfeld.

Und bald darauf wird Sülz autofrei sein, am Sonntag, 21. September. Das Motto in Sülz lautet „Freiraum – Gemeinschaftsraum“. Die Bezirksvertretung Lindenthal hat das Vorhaben im Februar offiziell beschlossen. Der logistische Aufwand ist beträchtlich. In Sülz wird sich die autofreie Zone über ein Areal von zwei Quadratkilometern erstrecken. Die überwiegende Mehrzahl der Autos – bis auf wenige Ausnahmen – muss raus. Rund 60 000 Bewohner sind betroffen. Das Agora-Bündnis, ein Zusammenschluss von Kölner Institutionen, Initiativen und Einzelpersonen, ist der ideelle Träger der autofreien Sonntage. Insgesamt etwa 40, 50 Menschen engagieren sich in der Vorbereitung, die meisten ehrenamtlich. Für Sülz wurde ein eigener Koordinationskreis gebildet, dem ausschließlich im Viertel Ansässige angehören. Die räumliche Leere, die die Autos hinterlassen werden, sollen die Menschen füllen. Anwohner einer Straße gestalten gemeinsam ihren Tag des guten Lebens. Das ist der Grundgedanke. Beim Nachbarschaftstreffen im Schiller-Gymnasium wurden jetzt die ersten Ideen ausgetauscht. Fortan trifft man sich alle sechs Wochen, um die Aktivitäten untereinander abzustimmen. Die Zusammensetzung der Brainstorming-Runden geschah quartiersweise. Etwa zehn Tischkreise formierten sich.

Persönlich kennengelernt

Menschen, die seit Jahren in derselben Straße wohnen, lernten sich so zum ersten Mal persönlich kennen. Ulla, Roman und die Eheleute Christel und Ulrich aus der Palanterstraße zum Beispiel saßen einträchtig nebeneinander, sie hatten sich vorher nicht gekannt. Weitere Anwohner aus der Sülzburgstraße, Heimbacher und der Zülpicher gesellten sich hinzu, Solveig etwa, Pari, Marc, Eva und Kirsten – jeder trug einen mit Vornamen und Adresse beschrifteten Kreppbandstreifen auf der Brust. Die Leitfrage war: Was muss am Tag des guten Lebens geschehen, um abends zufrieden und glücklich nach Hause zu gehen? Die Vorschläge prasselten nur so: Filmvorführung im Garten, Fußballtore auf der Straße für die Kinder, Raum für Meditation, Führung durch die Hinterhöfe. Zebrastreifen gestalten, Baumscheiben bepflanzen, nachts auf dem Asphalt in Zelten übernachten, zusammen grillen, essen, musizieren, tanzen – alles scheint möglich. „Wenn’s bloß nicht regnet“, so die einzige Sorge.

Im Nu waren zwei Flipchart-Seiten voll geschrieben – die wurden später fotografiert und als Anhang zur Protokollmail verschickt. Was erhoffen sich die Anwohner vom autofreien Tag, außer dass in der Art eines Straßenfestes fröhlich gefeiert wird? „Es ist eine gute Möglichkeit, den öffentlichen Raum ganz neu zu entdecken und auch neue Leute kennenzulernen“, erklärte Ulla, die selbst kein Auto besitzt. Die 73-jährige Christel sagte: „Ich bin gespannt, welche Möglichkeiten sich ergeben.“ Aus Kindheitstagen habe sie noch das Bild autoarmer Innenstädte vor Augen. Ihr Mann beabsichtige, demnächst seinen Pkw abzuschaffen. Laura (29) aus der Münstereifeler Straße wiederum sagte: „Ich finde das Projekt total spannend, ich war schon vor drei Jahren in Dortmund dabei, als die Autobahn A4 gesperrt und in eine Picknickfläche umgewandelt wurde, das war ein faszinierendes Erlebnis.“

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