ARD-Doku verärgert Widdersdorfer„Ich konnte nach dem Film vor Wut nicht einschlafen”

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Widdersdorf Neubaugebiet

Teil des Neubaugebiets in Widdersdorf

Widdersdorf – Widdersdorf hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Aus 6000 Einwohnern wurden 13.000. Welche Auswirkungen hat ein solches drastisches Wachstum auf die Identität eines Viertels? Ist es für die Menschen, die dort schon lange leben, noch Heimat?

Ist es Heimat für die vielen Neuzugezogenen? Mit diesen Fragen hat sich am Montagabend ein Film der ARD unter dem Titel „Heimatland“ befasst (nachzusehen in der ARD-Mediathek). Zu Wort kamen zunächst alteingesessene Viertelsbewohner, Mitglieder der Widdersdorfer Dorfgemeinschaft. Beim gemeinsamen Grillen im Garten äußerten sie Kritik an dem Zuzug. Es seien Menschen gekommen, die ihre Kultur und ihre Traditionen nicht teilten. Das Viertel habe sein Gesicht verloren.

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Danach wurden Zugezogene gezeigt in Einfamilienhäusern, so auch die Anwohnerin des Neubaugebiets Ines Reinprecht van de Sandt in ihrem Haus bei der Arbeit, am Schreibtisch, beim Gespräch über täglichen Stress. Das Viertel erschien so als Kulisse einer beruflichen Homebasis, mehr eine Schlaf- und Arbeitsstätte als ein Zuhause. Im Film war ein Graben spürbar, zwischen Alt und Neu, dem heimeligen Dorf und der Trabantenstadt. Es entstand ein Bild, das sehr viele Widderdorfer stark verärgert hat.

„Ich konnte nach dem Film vor Wut nicht einschlafen“, kommentiert Melanie Bollhorst, Pressesprecherin der Widdersdorfer Dorfgemeinschaft. Sie habe der ARD-Journalistin, die den Beitrag verfasst hat, die Kontaktdaten von ihrer Freundin Ines Reinprecht van de Sandt gegeben, weil sie, die nun immerhin auch seit neun Jahren im Viertel wohnt, so ein positives Beispiel für die Integration der Menschen aus dem Neubaugebiet sei. Sie treffe sich viel mit ihren Nachbarn. Stattdessen vermittle der Film den Eindruck, dass Reinprecht van de Sandt im Viertel nur arbeite und nichts mit den Menschen zu tun habe. Man habe ihre Antworten durch Schnitte völlig aus dem Zusammenhang gerissen.

Keine unzulässige Verkürzung

Die Autoren Julia Friedrichs, Fabienne Hurst und Andreas Spinrath weisen diese Aussage zurück: „Es wird im Film gesagt, dass Widdersdorf das Zuhause der Familie ist, sie wie viele versucht, hier heimisch zu werden, die Nachbarn kennt.“ Zudem seien an keiner Stelle Aussagen unzulässig verkürzt oder gar verzerrt wiedergegeben worden. Man sei mit allen Protagonisten des Films persönlich in Kontakt. „Sie haben nochmals bestätigt, dass die Ausschnitte aus den Interviews korrekt seien. Die Mehrzahl der Protagonisten aus dem Film reagierten positiv auf die Berichterstattung“, so die Autoren.

„Die ARD wusste offensichtlich schon vorher, was sie zeigen wollte“, sagt Melanie Bollhorst. Sie ist der Meinung, dass im Viertel nicht nur die Einwohnerzahl, sondern auch der Zusammenhalt gewachsen ist. „Der Karnevalszug geht jetzt seit fünf Jahren auch durch Neu-Widdersdorf”, schildert sie. „Und von den zugezogenen Viertelsbewohnern feiern mittlerweile sehr viele Menschen mit uns. Viele unserer Vorstandsmitglieder und Ur-Widdersdorfer sehen die Veränderung sehr positiv und freuen sich über die vielen jungen Familien im Neubaugebiet.”

Die Autoren widersprechen Bollhorsts Vorwürfen. „Vor dem ersten Drehtag haben wir mehr als zwei Wochen ohne Kamera vor Ort recherchiert. Wir sind nach Widdersdorf gefahren, weil es das größte private Neubaugebiet Deutschlands ist. Selten versuchen mehrere Tausend Menschen gemeinsam heimisch zu werden. Das war der Anlass für uns. Dass dort im Neubaugebiet und im alten Ort auch zwei Lebenswelten aufeinandertreffen, hat sich während der Recherche in vielen Gesprächen herausgestellt.“

Auch Ratsmitglied und Widdersdorferin Teresa De Bellis-Olinger, kritisiert die Berichterstattung des ARD: „Der Bericht war sehr einseitig und hat unser Viertel nicht sehr gut wiedergegeben. Ich war schockiert darüber, dass der Zuzug von vielen Menschen mit anderer Nationalität als Problem dargestellt wurde.“ An keiner Stelle im Film sei der Zuzug von vielen Menschen anderer Nationalität als Problem dargestellt worden, betonen hingegen die Autoren. „Es geht um den Zuzug von 7000 Menschen in rund 20 Jahren, um die Probleme mit denen offene Gesellschaften in allen westlichen Industrieländern zur Zeit zu kämpfen haben.“

Es sei so getan worden, als ob es kein Miteinander zwischen Alt-und Neu-Widdersdorf gäbe. „Aber das ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen", betont de Bellis. „Es wurde beklagt, dass der eigentlich als Treffpunkt vorgesehene Jakobsplatz so tot ist.“ Dies läge aber einfach daran, dass der Eigentümer der Lokale nicht an einen Gastronomiebetrieb vermieten wolle und sich auch die Eigentümergemeinschaft des Gebäudekomplexes am Platz dagegen ausgesprochen habe.

„Traurig, dass man die Anonymität in den Vordergrund stellt”

„Es ist traurig, dass man die Anonymität in dem großen Viertel, so in den Vordergrund stellt, statt die Gemeinschaft zu zeigen, die immer mehr gewachsen ist, auch durch Initiativen wie die Widdersdorfer Tafel oder Widdersdorf hilft.” Natürlich müsse das Viertel verkehrstechnisch dringend besser angeschlossen werden. Auch müsste Alt- und Neu-Widdersdorf durch eine Straße besser verbunden werden. „Das schnelle Wachstum bringt natürlich Probleme mit sich, ist aber auch eine Herausforderung."

Christian von Bock, Vorsitzender der Widdersdorfer Interessengemeinschaft, der seit knapp zwanzig Jahren im Viertel lebt, teilt zwar eine gewisse Kritik an den Lebensbedingungen vor Ort, sieht das Miteinander aber positiv. „Es stimmt, dass hier einiges fehlt, beispielsweise Infrastruktur,“ sagt er.

„Es wurde zwar ein Nahversorgungszentrum mit Edeka, Aldi und DM errichtet, dafür aber verschwanden und verschwinden immer mehr Geschäfte innerhalb des Ortes.” Es gäbe nur eine kleine Kneipe und zwei Restaurants und eben zu wenig Begegnungsstätten. Ein Markt und ein Dorfplatz mit Gewerbe hätten nicht dauerhaft etabliert werden können. Allerdings stünden die alteingesessenen und die neu hinzugezogenen Menschen an anderen Orten in zunehmenden Kontakt. „Es gibt hier einen großen Sportverein, in dem etliche zugezogene Erwachsene und Kinder integriert sind. Auch in der Interessengemeinschaft ist zunehmend ein wachsendes Interesse der Neu-Widdersdorfer festzustellen“, so von Bock. „Der Trend ist da. Es braucht vermutlich einfach nur noch etwas mehr Zeit“  

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