Kölner AutorinNeuer Roman über starke Frau im Mief der 50er Jahre

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Lioba Werrelmann auf dem Platz der Kinderrechte in Köln-Sülz.

Köln-Sülz – Schwungvoller Rock ’n’ Roll, wippende Petticoats, darunter „Flüssigstrümpfe“. In den 50er-Jahren weckte der wirtschaftliche Aufschwung bei der kriegsversehrten Gesellschaft ein nahezu aufgekratztes Nachholbedürfnis - und Wünsche, die sich noch nicht jeder erfüllen konnte. Frauen, denen die neuen Nylonstrümpfe zu teuer waren, bemalten ihre Beine mit Farbe und versahen sie mit einem Stich, der aussah, wie eine Strumpfnaht.

Es war eine Zeit des Aufbruchs – innerhalb der Krusten des alten Systems, mit seinen Grenzen, gerade für Frauen, wie die 16-jährige Helga. So heißt die Hauptfigur im neuen Roman „Findelmädchen“ der Sülzer Schriftstellerin Lioba Werrelmann. Sie hat ihr letztes Buch „Trümmermädchen“ unter dem Pseudonym Lilly Bernstein veröffentlicht und Helga spielte auch dort eine Nebenrolle als eines der Trümmerkinder.

Schicksale der Heimkinder beschäftigen Werrelmann schon lange

Im Nachfolgeroman findet ihr Vater, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekommen ist, sie und ihren Bruder Jürgen in Frankreich und holt die Geschwister nach Köln. Mit der freudigen Familienwiedervereinigung platzt aber auch Helgas großer Traum: In Frankreich wollte sie ein „Lycée“ besuchen und Schriftstellerin werden. Doch ihr Vater verbietet ihr den Besuch des Gymnasiums. Er schickt sie auf eine Hauswirtschaftsschule. Helga muss ein Praktikum absolvieren – und landet im Kinderheim in Sülz. Dort wird sie Zeugin, wie einige Nonnen Schützlinge aufs schlimmste misshandeln und diskriminieren. Ein schwarzes Mädchen namens Bärbel ist eine besondere Zielscheibe. Sie ist das „Besatzerkind“ einer „Asphaltantilope“, der man es gleich weggenommen hat. Bärbels Mutter musste sich nach dem Krieg allein und minderjährig durch Prostitution über Wasser halten und wurde von einem ihrer Freier, einem britischen Soldaten, schwanger. Helga versucht, sich für die kleine Bärbel einzusetzen – wird aber aus dem Heim geworfen. Nach dem gescheiterten Praktikum hat sie Glück, bekommt eine Stelle als Sekretärin beim WDR. Mit Rückschlägen erkämpft sie sich ihr eigenes Leben, kann Bärbel schließlich helfen und findet auch heraus, was aus ihrer Mutter geworden ist.

Werrelmann, die selbst auch als Redakteurin beim WDR arbeitet, hat sich von ihrer Umgebung inspirieren lassen, von ihrem Arbeitsplatz: „Das Funkhaus am Wallraffplatz hatte 1955 gerade eröffnet und galt als das modernste und prachtvollste Europas“, erzählt sie. Auch Romanheldin Helga läuft dort glücklich morgens die blaue Treppe hinauf, über der goldene Tütenlampen schweben – im Gedanken immer noch bei dem kleinen Mädchen im Heim.

Als Korrespondentin erlebte Werrelmann selbst, wie Heimkinder gebrochen wurden

Die Schicksale der Heimkinder haben Werrelmann schon lange beschäftigt, bevor sie das Buch schrieb: „Ich habe als Korrespondentin über die Demos der ehemaligen Heimkinder in Berlin berichtet“, schildert sie. „Viele waren obdachlos oder kriminell geworden. Sie wurden in den Heimen nicht auf das Leben vorbereitet, sondern gebrochen.“ Zwei Männer erzählten ihr weinend ihre Geschichte, die in einem Fall nicht einmal seine Ehefrau kannte. „Das war nicht erzählbar“, so Werrelmann. Es hinterließ einen tiefen Eindruck bei der WDR-Journalistin.

Zurück in Köln, wo sie in Nähe des Sülzgürtels wohnt, erfuhr sie über eine Infotafel auf dem Platz der Kinderrechte, dass sich dort das größte Waisenhaus Europas befand. Werrelmann recherchierte, was dort geschah, traf sich mit ehemaligen Sülzer Heimkindern, die von ihren Erfahrungen berichteten. Weitere Berichte von Betroffenen entnahm Werrelmann dem Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung. „Bis auf eine einzige Ausnahme, hat sich alles, was in meinem Buch in dem Sülzer Kinderheim geschieht, tatsächlich so ereignet“, sagt Werrelmann.

Der Eigelstein ist ebenfalls Romankulisse. Dort lebt Helga im spürbaren Aufschwung, zwischen Menschen, die noch tief von Kriegstraumata gezeichnet sind, zwischen Schweigen und Geheimnissen. Vor allem gilt der Blick der Autorin aber der Situationen der Frauen in ihrer Beziehung zu Männern, dem Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, in der Gesellschaft, im beruflichen und im privaten Bereich. Helga geht mutig ihren Weg. Und so ist „Findelmädchen“ ein Selbstermächtigungsroman und auf diese besondere Weise allzeit aktuell. 

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