NeubaugebietNeuer Schwung dank neuer Nachbarn

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Die Tulpen blühen im April 2011 auf der breiten Allee Unter Linden. Die Reihenhäuser am Boulevard sind längst bezogen.

Die Tulpen blühen im April 2011 auf der breiten Allee Unter Linden. Die Reihenhäuser am Boulevard sind längst bezogen.

Widdersdorf – Wer wissen will, wie Widdersdorf sich wandelt, muss ins Öfchen gehen. In der Kneipe Em Övvje stehen noch Männer, die am Nachmittag ein Herrengedeck trinken und Doppelkopf spielen, die ohne Reue rauchen und fettstrotzende Frikadellen essen; vom Wandel ist Em Övvje nichts zu sehen, doch jeder weiß über ihn Bescheid.

Franz-Josef Neuß, ein freundlicher Mann mit golden umrandeter Brille, sitzt mit seiner Frau Lucy am Tresen. Als Neuß in den 1950er Jahren in Widdersdorf aufwuchs, hatte der Ort 800 Einwohner, heute sind es fast 9000. Wer glaubt, Neuß, der 16 Jahre dem Sportverein vorstand, als der noch DJK Teutonia Widdersdorf hieß, und eher konservativ rüberkommt, sei ein Gegner des Wandels, irrt. „Dem Ort hätte nichts Besseres passieren können, als dass Amand Widdersdorf-Süd baut“, sagt Neuß, „und nichts Besseres als der Golfplatz von Amand, der den Lärm der Autobahn schluckt. Wir haben zwei Kunstrasenplätze bekommen und sind jünger geworden, andere Stadtteile altern.“

Wilfried Adams nickt. „Der Strukturwandel ist gut“, sagt der 77-Jährige, „ohne Wenn und Aber“. Bis 1994 hat Adams in Widdersdorf eine Kornbrennerei betrieben. Früher verfütterten die Landwirte im Ort die Schlempe – nährstoffreiche Rückstände des Schnapsbrennens – an Kühe und Schweine. Widdersdorf war ein von Höfen geprägter Ort, in der Kneipe trank man Korn. Die Höfe sind zwar noch da, viele sind aber zweckentfremdet: So der Tilmeshof oder der Mertenshof, deren Wohnungen heute wohlhabende Käufer locken.

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Als die Leute anfingen, lieber Wodka als Korn zu trinken, brach Schnapsbrenner Adams die Klientel weg. „Wäre Widdersdorf-Süd früher gekommen“ sagt er, „hätte ich meine Brennerei vielleicht nicht zumachen müssen“. So wurde aus der Brennerei ein Wohnhaus – ebenfalls eher für Besserverdienende.

Widdersdorf-Süd, gemacht für 3500 Menschen, ist das größte private Wohnungsbauprojekt Deutschlands. „Prima Colonia“ haben die Vermarkter das Gebiet genannt. In den 1980er Jahren begannen die Planungen, 2006 der Bau der Kanäle. Die letzten Häuser sollen 2015 fertig sein. Vom Lärmschutzwall, zwölf Meter über der A 1, zu Füßen der neue Golfplatz, geht der Blick auf Häuser und Baukräne – vor ein paar Jahren grasten hier noch Schafe. Kein Stadtteil Kölns wandelt sich stärker.

Für die Metamorphose vom ländlich geprägten Dorf zum gutbürgerlichen Stadtviertel abseits der City steht Norbert Amand, Bauunternehmer aus Düsseldorf. Auf jedem Bauschild ist sein Name zu lesen. Nicht nur ein Ärztehaus, betreutes Wohnen für Senioren und zwei Supermärkte hat der 65-Jährige bauen lassen, sondern auch eine private Ganztagsschule. In der Internationalen Friedensschule zahlen Eltern 12 000 Euro für ein Grundschuljahr, auf zehn Schüler kommt ein Lehrer. Botschafter der Schule ist Telekom-Chef René Obermann.

Auch die städtische Grundschule nebenan und die beiden Kindertagesstätten werden benötigt. Denn der Trend geht in Widdersdorf zum Drittkind. Im Schnitt leben 2,4 Menschen in einem Haushalt – das ist zusammen mit Meschenich Kölner Spitzenwert. Dank der neuen Siedlungen gehört der Ort an der A 1 auch zu den jüngsten Stadtteilen Kölns – der durchschnittliche Widdersdorfer ist 39,3 Jahre alt, im Stadtbezirk Lindenthal sind die Menschen drei Jahre älter. Spitze ist Widdersdorf auch bei den Eigenheimen und Mietshäusern: 91,5 Prozent der Menschen hier wohnen in Ein- und Zweifamilienhäusern – in Sülz sind es 23, in Ehrenfeld lediglich 17 Prozent.

In puncto Autos liegen die Widdersdorfer zwangsläufig in der Spitzengruppe – als Insel in der Großstadt grenzt Widdersdorf an keinen anderen Stadtteil an. Auch wenn der Abstand zu den nächsten Nachbarn aus Lövenich durch Neubauten auf beiden Seiten auf wenige hundert Meter geschrumpft ist. 604 Autos kommen auf 1000 über 18-jährige Einwohner. Ohne Fahrzeug kommt man aus Widdersdorf nicht weg – schon mit dem Auto ist es in Hauptverkehrszeiten schwer genug.

Nur neun Kilometer ist der Dom vom Widdersdorfer Kran-Ballett entfernt, doch morgens um 8 Uhr kommt er den Pendlern hinter dem Steuer, die in Richtung Kölner Innenstadt unterwegs sind, unerreichbar vor. Bis zum Militärring geht es für die Autos auf den beiden Zufahrtsstraßen K 5 (Hauptstraße/Freimersdorfer Weg) und L 213 (Lise-Meitner-Ring/Gregor-Mendel-Ring) höchstens schleppend voran. „Beide Straßen sind Nadelöhre“, sagt Ingo Wagner, der aus seinem Haus im Neubaugebiet die Zustände seit drei Jahren jeden Morgen beobachten kann. „Die Stadt muss sich etwas überlegen“, sagt auch Roselaine Wandscheer, die noch in Weiden wohnt und gerade mit ihrer Familie ein Haus im Neubaugebiet baut. Doch die Alternativen fehlten: „Ohne zwei Autos würde es für uns nicht gehen.“

Eine Anbindung an die Stadtbahn – der zentrale Boulevard des Neubaugebietes ist mit knapp 30 Metern Breite vorbereitet für eine Verlängerung der Linien aus Bocklemünd oder Weiden – ist nicht in Sicht. Beide Varianten würden sich finanziell nicht rechnen. Die Widdersdorfer werden in den nächsten Jahrzehnten auf drei Buslinien angewiesen sein.

„Der Verkehr ist ein Riesenproblem“, sagt auch Franz-Josef Neuß, am Kölsch nippend. „Das haben die Leute bei der Stadt nicht richtig bedacht, als der Strukturwandel geplant wurde.“ Fritz Schramma soll Widdersdorf in seiner Zeit als Oberbürgermeister einmal „die Insel der Unglückseligen“ genannt haben, als er das Verkehrschaos sah. Auf jeden Fall ist Widdersdorf der Ort der Verkehrsinseln – es gibt nur eine Ampel.

Die Nachfrage nach den Häusern in Widdersdorf ist den Verkehrsproblemen und der Lage an der Autobahn zum Trotz hoch. Schon in drei Jahren werden 10 000 Menschen in Widdersdorf leben. Und weitere, kleinere Neubaugebiete sind geplant. „Die meisten sehen es so, dass die Veränderung vor allem Vorteile hat“, sagt Susanne Betz, Vorsitzende der Interessengemeinschaft und Geschäftsführerin des Sportvereins. „Ohne Neubaugebiet hätten wir weder die Sportanlage noch Golfplatz und Lärmschutzwand bekommen.“

Dem Öfchen wird der Wandel in Widdersdorf nicht viel anhaben können – bloß geraucht werden darf in der Eckkneipe bald wohl nicht mehr. „Unser Kölsch“, sagt Franz-Josef Neuß, „werden wir weiter hier trinken“. Wir, das hieß im Öfchen schon immer: Widdersdorfer. Egal, ob alt oder neu.

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