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Mit 78 JahrenDieser Kölner ist schon 40.000 Kilometer um die Welt geradelt

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Das Fahrrad lässt ihn nicht mehr los. Wolfgang Hollmer vor dem Start zu seiner großen Deutschlandreise.

Köln – Wolfgang Hollmer (78) ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Wer ihn einmal bei einem Travelslam-Abend erlebt hat, wie er mit langen schlohweißen Haaren und funkelnden Augen in einer Viertelstunde von seinen Weltreisen mit dem Fahrrad erzählt, möchte am liebsten draußen am eigenen Rad das schwere Bügelschloss öffnen und sofort losfahren. Vom Rheinauhafen unter der Rodenkirchener Brücke hindurch und dann einfach immer weiter.

Nach drei Herzoperationen das erste Mal aufs Rad

„In vielen von uns stehen zwei Bedürfnisse in ständigem Konflikt miteinander, das Bedürfnis nach Sicherheit und das nach Abenteuer.“ Mit diesem Satz beginnt jeder seiner Vorträge. „Ich lasse diese Auseinandersetzung unentschieden enden, indem ich versuche, ein Gleichgewicht herzustellen. Ich freue mich riesig wegzufahren und freue mich riesig wiederzukommen. Und wer es schafft, auf Reisen Sicherheit und zuhause Abenteuer zu erleben, der ist auf dem richtigen Weg.“

Hollmer hat ihn gefunden. Spät zwar, aber nicht zu spät. Mit 71 Jahren, acht Jahre nach seinem letzten Arbeitstag als Layouter beim Kölner Express, drei Jahre nach einer schweren Herzoperation mit drei Bypässen, ist er zum ersten Mal aufs Rad gestiegen.

Im Jahr zuvor war er mit Freunden im Auto quer durch Frankreich an die spanische Costa Brava gefahren, um einen alten Freund zu besuchen, der dort seit ewigen Zeiten das lebt, was die 68er Generation aus Aussteiger bezeichnet. Die Erkenntnis kam Hollmer auf der Autobahn. „Mit 130 Sachen durch Frankreich zu rasen und dieses Land erleben zu wollen, ist genauso unmöglich wie der Genuss der französischen Küche ohne zu kauen.“

Lust auf Entschleunigung

Die Lust auf Entschleunigung habe ihn dazu verleitet, seinen Freund an der Costa Brava im Jahr darauf mit dem Fahrrad zu besuchen. 6000 Kilometer stehen am Ende dieser ersten Reise auf dem Tacho. Weil ihn der Rückweg von Menton an der Grenze zu Italien bis nach Brest im Norden und weiter zu einem Abstecher mit der Fähre ins britische Seebad Brighton führt.

Sechs Jahre später sind es sechs Fernreisen. Sie führen Hollmer von Köln nach Istanbul und zurück, über München nach Marrakesch, bis zum Nordkap, quer durch Deutschland, durch Neuseeland und entlang der Ostküste Australiens.

Rund 40000 Kilometer bis zur – vorläufigen – Endstation Corona. Ende Februar wird sein Plan, auf dem Landweg nach Europa zurückzukehren, gestoppt. „Vom einen auf den anderen Tag fuhr kein Schiff mehr in Richtung Asien.“ Hollmer muss kurz vor dem weltweiten Lockdown sein frisch in Neuseeland gekauftes E-Bike verkaufen und heimfliegen. „E-Bikes werden in den Maschinen leider nicht transportiert.“

Eine lange Radfahrpause

18 Monate später. Eine lange, für ihn zu lange Radfahrpause. Auf dem Tisch in seiner Altbauwohnung in der Südstadt, in er seit 1972 lebt, liegen die Klamotten für die nächste Reise.

Normalerweise wäre er ungefähr jetzt aus Neuseeland zurückgekommen – über China, Tadschikistan, Usbekistan Richtung Europa. „Das nagt immer noch sehr an mir. Diese Reise werde ich wohl nicht noch einmal unternehmen. Auch nicht von West nach Ost.“

Und so macht Hollmer jetzt etwas völlig Unübliches. Er startet im Herbst und nicht wie üblich im Frühjahr zu einer großen Deutschlandtour mit Abstechern in die Niederlande und nach Österreich. Wenn das Wetter mitspielt, will er bis in den Dezember auf dem Rad sitzen.

Wir essen Oliven und Schafskäse, auf dem Tablet wischt er sich auf Hunderten Fotos durch seine Reisen. Es gäbe auch ein Gläschen Wein, aber dafür ist es noch zu früh.

Hollmer erlebt viel Gastfreundschaft auf Reisen

„Ich bin Menschen begegnet, die Du im normalen Leben nicht kennenlernst. Du bist allein auf dem Rad, aber sobald Du anhältst, hast Du Kontakt“, sagt Hollmer. Weil die Zeit immer zu kurz sein würde, um über alle Reisen zu erzählen, konzentrieren wir uns auf genau diese Menschen.

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Auf den norwegischen Bahnschaffner, der Hollmer bei strömendem Regen hilft, das vollbepackte Rad in den Waggon zu tragen. „Er weist mir einen Platz zu und als ich sage, dass ich noch kein Ticket habe, klopft er mir auf die Schulter. Du bist mein Gast. Die Strecke war 450 Kilometer lang.“

Auf den rumänischen Autofahrer, der Hollmer bei der Rast auf einem Highway-Parkplatz in Australien erst ein Stück selbstgebackenen Kuchen, dann zwei Bananen und am Ende noch 50 australische Dollar in die Hand drückt. Mit den Worten: „Die wirst Du brauchen.“ Hollmer wird in Bulgarien von Wildschweinjägern zum Essen eingeladen und hilft drei Tage später beim Goldsuchen in einem Fluss.

Am Eingang zum Te Piua-Nationalpark Rotorua kramt er das Foto eines kleinen Mädchens hervor, das er 1965 dort fotografiert hat, als er zwei Jahre per Anhalter auf Weltreise ging. „Ich habe gedacht, ich könnte doch mal schauen, ob es das Mädchen noch gibt, zeige das Bild an der Kasse. Da guckt die Frau ganz unruhig, holt eine Kollegin und dann sind sich beide sicher. Das ist Polly, die Park-Managerin. Die kam dann auch und wir lagen uns in den Armen, obwohl wir uns doch gar nicht kannten.“

Organisation für Fahrradweltenbummler angeschlossen

Geschichten wie diese gibt es viele und selbst in den Monaten, die Wolfgang Hollmer zuhause verbringt, kommen neue hinzu. Weil auch er sich einer Organisation für Fahrradweltenbummler angeschlossen hat, die ihren Mitgliedern rund um den Globus freie Kost und Logis bietet.

„Warm Shower“ habe schon Menschen aus Kanada, Japan, Neuseeland, Australien und Mexiko in die Kölner Südstadt gebracht. „Die rufen an, hast Du was frei? Schon läuft das. Die beiden Mexikaner haben hier bei mir gewohnt, da war ich selbst auf Tour. Mein Sohn hat ihnen den Schlüssel gegeben. Ich biete freie Unterkunft und mache selbst Gebrauch davon. Da haben sich schon die tollsten Kontakte ergeben. Und über Facebook bin ich mit vielen von ihnen befreundet.“

40.000 Kilometer in sieben Jahren

Von den letzten sieben Jahren vor dem Lockdown hat Hollmer zweieinhalb im Sattel gesessen. Er habe noch nie einen Platten gehabt, sagt er. Auch weil er vor jeder Tour Reifen und Schläuche wechselt. „Ich kann gar keinen Schlauch flicken.“ Nur in England sei ihm einmal die Kette gerissen. Seither wird auch die vor jeder Tour erneuert.

Jede seiner Reisen beginne mit dem ersten Schritt, sagt er. Sobald er unterwegs sei, reihe er einfach eine Etappe an die nächste. Wie bei einem Spaziergang, nur dass man einfach nicht mehr umkehre. Und dass Lust und Neugier zwar das Wichtigste sind, aber allein nicht ausreichten. Neben Zeit und Geld sollten auch Fitness, Anpassungsfähigkeit, Kontaktfreude und Organisationstalent hinzukommen. „Nur die Angst, die sollte man zuhause lassen“, sagt Hollmer. Er habe nur zwei schlechte Momente erlebt. „In Marokko hat man mir das Geld gestohlen, in Australien bin ich vom Rad gestürzt und habe mir die Rippen geprellt.“ Mehr nicht.

„Ich habe mir angewöhnt, in meinem Leben Dinge zu tun, die ungewöhnlich sind. Das mache ich schon sehr lange.“

Hollmers Reisen im Überblick

2014 Tour de France - Ja, ich habe gedopt. 6000 Kilometer, sechs Monate durch Frankreich und Nordspanien.

2015 Meistens fuhr ich auf'm Strich. 7000 Kilometer, sechs Monate Köln-Istanbul-Köln, über Italien, Korsika, Sardinien, Sizilien, Kalabrien und Griechenland und zurück über Bulgarien, Serbien, Kroatien, Ungarn, Österreich, Tschechien.

2016 Über Mü nach Ma. 7000 Kilometer, sechs Monate von Münstereifel nach Marrakesch über Frankreich, Spanien, Marokko, Spanien, Portugal, Spanien, Frankreich und Belgien.

2017 Über Wiedenest nach Hammerfest. 9000 Kilometer, sechs Monaten über Polen, Königsberg, Litauen, Lettland, Estland, Russland (St. Petersburg) und Finnland zum Nordkap in Norwegen. Zurück über Schweden und Dänemark.

2018 Fast nur Deutschland. 2000 Kilometer in zwei Monaten von Köln durch' Elsass nach Rheinfelden/Basel. Von dort nach Berlin und zurück nach Köln.

2019 Abschied von Neuseeland und Australien. 6000 Kilometer in sechs Monaten durch Neuseeland und 4000 km in drei Monaten entlang der Ostküste Australiens. Der Plan, auf dem Landweg zurückzukommen, wird Ende Februar 2020 von der Corona-Pandemie durchkreuzt.

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