Moralische WertungVon Woelki lange zurückgehaltenes Gutachten prangert das System an

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Woelki 250321 Getty

Kardinal Rainer Woelki

Köln – Nein, vertuscht hat Kardinal Rainer Woelki nicht, als er im Oktober 2020 das Missbrauchsgutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) unter Verschluss nahm und bei dem Kölner Strafrechtler Björn Gercke ein Ersatzgutachten in Auftrag gab. Wie die jetzt vom Erzbistum Köln nach massivem Druck der Kirchenbasis und der Öffentlichkeit gewährte Einsicht zeigt, steht im WSW-Gutachten nichts, was Woelki direkt belastet.

Den Fall des mit Woelki befreundeten Düsseldorfer Pfarrers O., den der Kardinal nicht näher untersuchte und auch nicht nach Rom meldete, haben die Münchner Anwälte nicht in die Sammlung 15 exemplarisch ausgewerteter Vorgänge aufgenommen. Man kann daraus nicht ableiten, dass sie zum gleichen Schluss gekommen sind wie Woelki selbst, der sein Agieren auf Basis des Gercke-Gutachtens inzwischen als rechtskonform, aber nicht erschöpfend bewertet. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ erachten die WSW-Anwälte Woelkis Umgang mit der Akte O. nämlich sehr wohl für pflichtwidrig. Sie haben das aber nicht so hoch gehängt wie andere Fälle.

Dies macht ein Manko des WSW-Gutachtens deutlich: Es erklärt nicht explizit die Auswahl der Fallbeispiele. Da ist Gerckes Arbeit, im Übrigen fast doppelt so umfangreich, transparenter. Aber aus dem Vorgehen der Münchner wird dann doch sehr deutlich, wovon sie sich leiten ließen: Gemäß ihrem Auftrag wollten sie zeigen, wie es in Köln zu einem System des Wegschauens, Vertuschens und Bagatellisierens kam und wie die führenden Verantwortungsträger in diesem System agierten.

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Mit den Augen der Betroffenen

Anders als Gercke nahmen die Münchner dabei auch eine doppelte Perspektive moralischer Verantwortung ein: Zum einen maßen sie die Bistumsspitze – angefangen bei den Kardinälen Joseph Höffner und Joachim Meisner – an Erwartungen, die an Führungspersönlichkeiten billigerweise zu richten sind, an Kirchenmänner zumal.

Zum anderen schauten sie diese mit den Augen der Betroffenen an. Daraus ergeben sich dann – mit unterschiedlichen Zuweisungen – Bewertungen wie „völlige Gleichgültigkeit“, „Versagen“, „Desinteresse“ an den Opfern mit „Missachtung“ ihrer Belange und demgegenüber ein „ausgeprägter Wille zum Täterschutz“ oder eine „durchgehend täterfreundliche, aufklärungsfeindliche Haltung“. Höchste Würdenträger hätten Missbrauch als „lästiges Übel“ behandelt oder als Krisenphänomen, das man günstigerweise „aussitzen“ könne. In Befragungen hätten einzelne Funktionäre die „geringste Bereitschaft zur Selbstreflexion“ vermissen lassen und selbst „offensichtliche Sachverhalte“ geleugnet.

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Klar, dass die diversen geistlichen Herren das nicht über sich lesen wollten. Und bemerkenswert, dass sie solche Urteile mit anwaltlicher Hilfe unterdrücken wollten, gegebenenfalls mit Klagen gegen das eigene Bistum. Ebenso klar ist auch, dass eine mit kristalliner Präzision auf Rechtskonformität zielende, aber auch darauf reduzierte Prüfung wie die von Gercke zu anderen Ergebnissen kommt. Da bleiben vom Agieren des Bistums-Offizials, der im WSW-Gutachten über Seiten hinweg massiv kritisiert wird, als Pflichtverletzungen falsche Rechtsauskünfte in ganzen zwei Fällen übrig.

An diesem besonders eklatanten Unterschied wird erkennbar: Wer beim kritischen Blick auf den Umgang mit schwersten Verbrechen an Kindern und Jugendlichen Anstand und Gewissen ausblendet, der kann Anstands- und Gewissenlosigkeit nicht auf den Begriff bringen. Aber, aber . . . das sind nun mal keine juristischen Kategorien. Und deshalb hantiert sich’s für Woelki mit Gerckes dickem Brocken und seinen 75 Pflichtverletzungen (gegenüber 67 bei WSW) entschieden leichter.

Klerikalismus und Männerbündelei

Zumal ihm dort auch Betrachtungen des „Systems Kirche“ aus dem WSW-Gutachten erspart bleiben, die ihm schwerlich in den Kram gepasst haben dürften. Dort ist von einer Wagenburgmentalität die Rede, von Klerikalismus und Männerbündelei; von hierarchischen Strukturen, die defizitäre Typen in Leitungsfunktionen brächten und „Angst und Konfliktvermeidung“ zum bestimmenden Handlungsmotiv werden ließen. Das WSW-Gutachten geht sogar so weit, die Auswahl der Bischöfe in Frage zu stellen, bei der sich die „unbedingte Treue zum kirchlichen Lehramt als ausschlaggebendes Kriterium“ durchsetzt.

Anfragen der WSW-Juristen an ein überhöhtes Priesterbild oder etwaige Folgeschäden des Pflichtzölibats tut das Erzbistum als Kompetenzüberschreitungen ab. Woelki selbst hat sie in seiner Reaktion auf das Gercke-Gutachten am Dienstag als sachfremde „kirchenpolitische Fragen“ weggewischt. „Scheinzusammenhänge“ und die „Reduktion auf einfache Lösungen helfen nicht“, so der Kardinal.

Fürs „Blame Game“ juristischen Fehlverhaltens („Der war’s, der war’s!“) ist das Gercke-Gutachten gewiss eine große Hilfe. Dem WSW-Gutachten indes könnte der Kardinal unter anderem entnehmen, warum vielen in der Kirche das nicht reicht.

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