Jahrelanger IrrtumWieso ein Besuch in Stammheim in Köln unseren Autor überrascht hat

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Alte Backsteinhäuser prägen  das Bild in den Straßen.

  • Urlaub in der eigenen Stadt ist in diesem Jahr besonders gefragt. Unsere Reporter stellen während der Sommerferien Kölner Veedel vor – solche, die sie besonders gut kennen und solche, die sie schon immer mal besuchen wollten.
  • Wir schildern, was wir schön finden, wo es besonders lecker ist und verraten unsere Lieblingsplätze, natürlich ganz subjektiv und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
  • In unserer ersten Folge geht es nach Stammheim – dabei hat unser Autor das Veedel in der Vergangenheit absichtlich gemieden.

Köln-Mülheim – Es gibt Unsinn, den glaubt man einfach, weil er sich sehr schlüssig anhört. Mein Vater zum Beispiel hat mich als Kind hochgenommen, indem er mir erzählte, dass Thunfische aus dem Thunersee in der Schweiz kommen. Ich habe das jahrelang geglaubt. Als ich noch klein war, dachte ich auch, dass RAF-Terroristen nicht in Stuttgart-Stammheim, sondern in Köln-Stammheim auf ihren Prozess gewartet haben. Warum auch nicht, einige waren ja auch mal in Köln-Ossendorf inhaftiert. Als ich realisierte, dass das kompletter Humbug war, war mir das derart peinlich, dass ich Köln-Stammheim fortan mied. Als könnte das kleine Veedel etwas für meine Dummheit. Folglich habe ich mich kaum mit dem Stadtteil beschäftigt. Höchste Zeit also, das zu ändern.

Mit Stammheim habe ich bislang vor allem zwei Dinge verbunden, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Den Schlosspark und das Großklärwerk.

Der Schlosspark ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal, weil in der wunderschönen Grünanlage kein Schloss steht. Das prunkvolle Gebäude – erstmals 1637 erwähnt – wurde nämlich 1944 bei einem Bombenangriff vollkommen zerstört. Übrig blieb der Park, angelegt von der Familie von Fürstenberg-Neheim um eine Lindenallee. 

Der Kölner Dom ist nicht zu sehen

Seit 2002 sind in der öffentlich zugänglichen Anlage direkt am Rhein Kunstwerke zu sehen. Sie stehen neben den Wegen auf dem Rasen, hängen teilweise in den Bäumen, fügen sich mitunter so behutsam in den Park ein, dass sie erst auf den zweiten Blick auffallen.

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Den Ort umgibt eine kontemplative Stille, man hört außer Vogelgezwitscher fast nichts, für einen Moment vergisst man, überhaupt in Köln zu sein. Der Eindruck verstärkt sich am Rhein, denn der sonst in der Stadt schier allgegenwärtige Dom verschwindet hinter einer Biegung des Flusses. Nicht einmal das leerstehende, verfallene Ulrich-Haberland-Haus, 1955 von der Bayer AG als Seniorenheim gebaut, stört. Neben den Kunstwerken wirkt es fast wie eine weitere Großskulptur, die die Endlichkeit alles Irdischen anmahnt.

In Stammheim kommen sich Adel und Abfall nahe

Der Schlosspark hat das Zeug, einer meiner liebsten Ruheorte in Köln zu werden – die ich wie einige Lärmorte in der Stadt gleichsam schätze und brauche. So nah wie in Stammheim kommen sich Adel und Abfall selten – das merkt man, wenn der Wind eine seltene Wolke strengen Miefs vom Großklärwerk hinüberweht. Zwischen Werk und Park liegt nur das Bootshaus der Ruderer des RTHC Bayer Leverkusen. Die fünf Faultürme des Klärwerks, knapp 40 Meter hohe, zinkblechverkleidete, riesige Eier, sind weithin sichtbar. In der Anlage wird das Wasser für etwa 80.0000 Kölner aufbereitet.

Natürlich ist das knapp vier Quadratkilometer große Stammheim mit seinen 8300 Bewohnern mehr als Schlosspark und Klärwerk. In Rheinnähe, und da befindet sich ungefähr die Hälfte des ehemaligen Fischerdorfs, stehen an den kleinen Straßen eine Menge hübscher alter Wohnhäuschen, viele davon aus Backstein, fast alle akkurat instandgesetzt. Die Gisbertstraße ist eine Art Geschäftsstraße mit allem, was man zum Leben braucht. Im Zigarrenhaus Müller mit seiner schönen alten Leuchtschrift etwa gibt es neben Tabakwaren auch Schreibutensilien, Schulranzen, Halstücher und Engelsfiguren mit roten Clownsnasen.

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Einkehren können Besucher in verschiedenen Restaurationen wie dem Gasthaus Goldenes Fass mit seinem Biergarten, der Kneipe Zum Krug, die mit Ungarischem Gulasch („feine Budapester Geschmacksrichtung“) wirbt, oder im Stammheim Treff, der früher in herrlicher rheinischer Grammatik „Beim Ingrid“ hieß.

An Wochenenden ist in den Sträßchen wenig mehr zu hören als ein ferner Staubsauger, der irgendwo über den Teppich geschoben wird. Stammheim ist beschaulich, die Menschen freundlich. Nur an wenigen Tagen im Jahr ist es mit der Ruhe vorbei. Etwa wenn die Karnevalsgemeinschaft Fürstenberg zu seinen Damensitzungen lädt. „Die Hölle von Stammheim“ nennen sich diese berühmt-berüchtigten Veranstaltungen, bei denen rund 2000 Frauen im Festzelt auf dem Schützenplatz eskalieren. Neben der KG gibt es eine Reihe von Vereinen im Veedel, zum Beispiel den TuS Stammheim von 1889 mit einem schicken Kunstrasenplatz, den noch älteren Männergesangverein „Eintracht“, die noch viel ältere St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft oder den nicht ganz so alten Ski-Club Edelweiß.

Preisgekrönte Architektur in Stammheim

Der Gegenentwurf zur höllischen Eskalation an Karneval ist die kleine katholische Kirche St. Mariä Geburt. Hauptattraktion des Backsteinbaus mit dem gedrungenen Turm ist der Marienaltar mit der Freudenreichen Mutter. Auch eines der Fenster im Kirchenschiff zeigt Maria, und die Kerzen, auf denen das Fenster abgebildet ist und die man im Gotteshaus kaufen kann, kosten zurzeit nur fünf statt sieben Euro. Ist diese Kirche schon sehr alt, wurde die evangelische Immanuel-Kirche erst 2013 eröffnet – ein moderner, architekturpreisgekrönter Bau, der fast vollständig aus Holz besteht.

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Auffälligste Landmarke – neben dem Klärwerk – ist der alte Wasserturm am Rhein. Der Turm von 1881 verfällt, in ihm und um ihn herum sollen einst neue Wohnungen entstehen. Doch das Bauprojekt ist ins Stocken geraten. Da geht es dem schön sanierten Telegrafen-Turm an der Egonstraße schon besser. Mit ihm verständigten sich die Preußen. Der Turm ist Teil einer ganzen Kette optischer Telegrafen. Optisch, weil die Preußen mit Ferngläsern die Stellung der sechs Eisenarme an dem Signalmast ablasen. Diese Art der Kommunikation wurde wenig später durch das – elektrische – Morsen ersetzt.

Übrigens ist das Schloss nicht das einzige Gebäude, das sich hier in Straßennamen wiederfindet, dass es jedoch nicht mehr gibt. Auch das „Stammheimer Häuschen“ sucht man vergebens. Ein netter Anwohner der gleichnamigen Straße weiß, wo es geblieben ist: „Das war eine Gaststätte an der Bahnlinie zwischen Köln und Opladen. Aber das gibt es nicht mehr.“ Immerhin: Das Haus existierte tatsächlich einmal. Im Gegensatz zu Gefängniszellen für Terroristen.

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