Einbeiniger Tänzer aus SyrienWie Ashraf im Meldeamt die Liebe fand

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Ashraf Albesh verdrängt lieber, statt zu reden, er ist da nicht anders als die Soldaten, die von der Front kamen.

  • Ashraf Albesh floh auf Krücken von Damaskus nach Köln. Eine Bombe riss ihm vor fünf Jahren das linke Bein weg.
  • In der Türkei klaute ihm ein Schlepper das Geld. Vor der Küste Griechenlands wäre er beinahe ertrunken.
  • Sein Ziel war Norwegen. Bis er sich in eine junge Frau aus dem Einwohnermeldeamt verliebte.

Köln – Ashraf Albesh, der einbeinige Tänzer aus Damaskus, der sich in eine junge Frau vom Einwohnermeldeamt verliebt hat, steht in seinem Containerzimmer mit Blick auf Wald und Felder. Er kräuselt mit dem Zeigefinger eine Haarsträhne und sagt: „Es ist kompliziert. Aber es läuft ganz gut.“

Neben dem 25-Jährigen sitzt seine Freundin Ionna und erzählt unwirklich klingende, alltägliche Geschichten von Flüchtlingen, die in ihrer Behörde abgewimmelt, vertröstet, überhört, beschämt werden. Sie erzählt, warum ihre Eltern nichts von Ashraf wissen und warum es ihr meistens egal sei, was andere über ihre Liebe denken.

Das Paar berichtet von Hilfsbereitschaft und glücklichen Begegnungen, von Einsamkeit, Angst, Überforderung und Solidarität – eine Geschichte, wie sie nicht mehr oft zu lesen ist in Deutschland, drei Jahre nach der überbordenden Willkommenskultur, in Wochen nach einer überhitzten Integrationsdebatte, die sich an einem deutschen Fußballspieler mit türkischen Wurzeln und dessen Foto mit dem türkischen Präsidenten entfacht hat. Vor allem ist es eine Geschichte des trotz aller Schwierigkeiten gelungenen Ankommens.

Auf Krücken von Damaskus nach Köln

Ashraf Albesh hat es auf Krücken von Damaskus bis nach Köln geschafft. Im Mittelmeer ist er auf einem mit 65 Menschen überfüllten Schlauchboot vor der griechischen Insel Samos gekentert und musste eine halbe Stunde schwimmen, bevor er gerettet wurde. Er ist auf der Balkanroute wochenlang immer wieder gelaufen und hat am Straßenrand geschlafen, wegen eines fehlenden Stempels im Pass ist er zunächst nicht nach Mazedonien gekommen.

Er wollte nach Norwegen und strandete in Deutschland. In Köln traf er zwei Frauen, ohne die er jetzt womöglich so leben würde wie die Iraker, Afghanen und Iraner, die neben ihm wohnen und tagtäglich über ihre Probleme sprechen, die den Container mit dem stinkenden Gemeinschaftsklo selten verlassen. „Manche denken, Deutschland ist der Himmel, so reich, dass sie nichts zu tun brauchen. Manche sind frustriert, weil sie nichts verstehen“, sagt der 25-Jährige. „Ich sehe es so: Überall muss man sein Leben selbst in die Hand nehmen. Aber ich hatte natürlich auch Glück.“

Ashraf Albesh hat fünf Jahre die Schule besucht und als nicht mal Jugendlicher angefangen, zu arbeiten. Er hat in Damaskus auch nach seiner Beinamputation Sonnenschutzfolien auf Autoscheiben geklebt und abends mit einem Kumpel, dessen Vater Zoodirektor war, in einer Wohnung Wildtiere großgezogen – Löwen und Tiger zum Beispiel. Er zeigt ein Foto, das ihn zeigt, wie er einem kleinen Löwen ein Fläschchen gibt. „Es gibt im Nahen Osten viele reiche Menschen, die sich wilde Tiere als Haustiere halten“, sagt er.

„Es war eine Bombe“

Vor fünf Jahren hat Albesh nach der Detonation einer Bombe ein Bein verloren. „Es war eine Bombe“, mehr möchte er nicht sagen. „Ich will nach vorn gucken.“ Ashraf Albesh verdrängt lieber, statt zu reden, er ist da nicht anders als die Soldaten, die von der Front kamen, die mit posttraumatischen Störungen aus Afghanistan zurückkehren, die tags schweigen und nachts schreien.

Albesh sagt überhaupt wenig zu seiner Vergangenheit. Oft sagt er, dass es kompliziert war. „Irgendwann gab es in Damaskus keine Perspektive mehr.“ Sein kleiner Bruder floh 2014, der große 2015, er 2016. In der Türkei klaute ihm ein Schlepper sein Geld, in Griechenland wäre er fast ertrunken. Er wollte nach Norwegen, weil sein bester Freund auch dorthin wollte, und blieb in Deutschland, weil er den Freund in der Türkei aus den Augen verlor. Das Leben eines Geflüchteten setzt sich aus weit mehr Zufällen zusammen als das eines deutschen Büroangestellten, in dem es ja auch schon jede Menge Zufälle gibt.

Das Leben selbst in die Hand zu nehmen, bedeutet für Ashraf Albesh inzwischen auch: tanzen. Die Kölner Tänzpädagogin Friederike Maack wollte Geflüchteten, die in Brühl in einem Container lebten, helfen. Dort traf sie den charismatischen, wie ein Model aussehenden einbeinigen Kerl, der sich ohne viele Worte verständlich machen konnte, sondern mit Gesten, Blicken, seinem Willen. Sie half ihm, nicht wie von den Behörden vorgesehen nach Aachen umziehen zu müssen und stiefelte mit ihm von Amt zu Amt. Maack verhalf Albesh zu seiner Prothese, sie erklärte ihm fast täglich Behördenschreiben oder füllte sie für ihn aus – und irgendwann stellte sie ihm Gerda König vor.

Gerda König ist eine bekannte Choreographin, die in Europa und vielen afrikanischen Ländern mit Tänzern mit und ohne Behinderung arbeitet. Albesh hatte in Damaskus nie getanzt, aber vage davon geträumt, eines Tages Schauspieler zu werden. Im vergangenen Jahr half er dann beim Aufbau einer Inszenierung von Gerda König in der Wachsfabrik in Rodenkirchen – dieses Jahr übernahm er eine Hauptrolle. Das Stück heißt „techNOlimits“ und ist eine Schreckensutopie: Eine Firma verspricht, dass ein Hormonpflaster und die richtige Programmierung ausreichen, um zu steuern, wonach jeder sich sehnt: Liebe – beziehungsweise das, was wir Liebe nennen. Mit dem „Premium Plus Paket“ können Kunden auf „alle Neuerungen und Errungenschaften“ zugreifen, so auf das Modell Shiori („faszinierend und unnahbar mit fast menschlichen Emotionen“), gespielt von einer jungen Frau mit einer Handprothese, das Modell John („ein Fels in der Brandung mit kräftiger Statur und zerfurchtem Gesicht“), verkörpert vom ebenfalls beinamputierten Kriegsveteranen John Herman, und das Modell Ashraf („empfindlich, sportlich, ästhetisch“), dem attraktivsten Roboter der Firma.

Die amputierten Tänzer zeigen Bewegungen, die ohne Prothese nicht möglich wären. Behinderungen sind für die selbst schwerstbehinderte Gerda König keine Behinderungen, sondern andere Perspektiven auf das Leben. In der Wachsfabrik tanzt Ashraf mit einer jungen Frau, die sich für seine Prothese interessiert. Die zwei wirbeln um einen schmalen Tisch herum, mal steht er darauf, mal sie, mal beide, irgendwann verknoten sie sich ineinander, sie ziehen sich an und stoßen sich ab, bis sie ihm seine Prothese abnimmt und triumphierend den Raum verlässt, während er einsam, aber mit aufrechtem Rücken auf dem Tisch stehen bleibt. 

„Sie interessiert sich für meine Prothese, ich mich für ihre Beine“, sagt Ashraf nach dem umjubelten Tanz, den sie ein paar Tage später auch im Sportmuseum aufführen. „Ich kann etwas, was sie nicht kann, sie kann etwas, was ich nicht kann.“ Von der Einsamkeit redet er nicht, lieber davon, dass er die Kunst brauche, um sich auszudrücken: „Ich kann nicht so gut Deutsch, aber mit Tanzen ist es wie mit der Musik: Jeder versteht.“ Wenn Albesh in der Dystopie von Gerda König tanzt, entgleist sein Gesicht zu einer Grimasse. Seine abgehackten Bewegungen und angespannten Muskeln sehen aus, als wehre er sich gegen eine Macht, die ihn steuert.

In seinem Containerzimmer mit Blick auf die Brühler Felder und das Siebengebirge erzählt er von einer Filmidee. Er spricht ein bisschen stockend, ein paar Worte fehlen, aber es scheint klar durch, was er meint: „Es geht um eine Bombe, sie kommt immer wieder. Ein Mädchen in einer Straßenbahn. Ich werde zurückgehalten, immer wieder. Das Mädchen lächelt. Ich treffe es wieder. Es ist kein Zufall. Es gibt keinen Zufall. Ein Wecker schrillt. Ich wache auf.“ Die Bombe, sein Trauma, Ionna, seine Liebe. Dazwischen die Fremdheit, die Ohnmacht, das Zurückgehalten werden. Allein seine Liebe zu Ionna ist filmreif. Ionna, deren Eltern aus Griechenland stammen und ihrer Tochter immer nahe gelegt haben, ein griechischstämmiger Junge sollte ihre Liebe sein, erzählt die Geschichte so detailliert, wie das nur bei den wichtigsten Erinnerungen möglich ist. Ein kleiner Auszug: „Ich fand Ashraf schon interessant, als er vor zwei Jahren im Bürgeramt in einer Schlange stand mit seinen Krücken. Wir haben uns dann mal zufällig in der Stadt gesehen, und dann stand er am 30. November 2016 wieder in der Schlange, und wusste noch, was ich anhatte, als wir uns ein halbes Jahr vorher in der Stadt gesehen hatten.“

Sie habe sich an jenem 30. November ausgerechnet, wann genau sie den Aufrufknopf drücken müsse, damit Ashraf zu ihr komme. „Doch meine Kollegin hatte ein paar Sekunden früher freigeschaltet, Ashraf ging also zu ihr. Ich habe mich geärgert, da kam die Kollegin zu mir und fragte mich, ob ich den Fall übernehmen könne, sie verstehe ihn nicht.“ Albesh war seinerzeit mit einem Kumpel in eine eigene Wohnung gezogen, wollte aber wieder zurück in den Container. „Es fehlte ein Papier vom Sozialamt, man hätte ihn ein Stockwerk höher schicken können, oder das Papier selbst mit einem Anruf anfordern“, erinnert sich Ionna. „Während wir auf das Papier warteten, hat Ashraf ein Teelicht mit Weihnachtsdeko von mir aus Versehen kaputtgemacht. Als wir den Papierkram erledigt hatten, wollte er nicht gehen – er blieb einfach sitzen und sagte, er könne mir Arabisch beibringen und ich ihm Deutsch. Das wäre schön, habe ich gesagt. Nummern haben wir nicht getauscht, das hätte vielleicht jemand mitgekriegt – eine Kollegin, die Ashraf auch nett fand, hat ihn auf Facebook gefunden.“

Ionnas Eltern wissen nichts von der Liebe ihrer Tochter

Am Tag, als Ashraf dank Friederike Maack seine Prothese bekam, ging er mit Ionna über die Kölner Weihnachtsmärkte. Danach chatteten sie die ganze Nacht. Inzwischen kann sie das arabische Alphabet und er immer besser Deutsch. Über Ionna und Friederike Maack hat Ashraf Albesh inzwischen viele Menschen kennengelernt, die beiden Frauen haben viel über die syrische Kultur gelernt, das Essen, das Verhältnis von Mann und Frau, den Glauben, der auch dann eine große Rolle spielt, wenn man ihn nicht besonders streng lebt wie Albesh.

Ionnas Eltern wissen nichts von der Liebe ihrer Tochter. „Sie würden das nicht akzeptieren“, sagt sie. „Ich bin selbst mit Vorurteilen gegenüber Arabern und Türken großgeworden. Ich bekomme in der Behörde mit, wie Flüchtlinge – natürlich nur von einigen, aber immer wieder – als Menschen zweiter Klasse behandelt werden und hatte selbst auch immer Vorurteile.“ Heute wisse sie, dass „man etwas verpasst, wenn man sich immer nur abgrenzt und nicht bereit ist, fremde Menschen und Kulturen kennenzulernen“. Ashraf, der einbeinige Tänzer aus Syrien, ist ihr längst nicht mehr fremd.

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