Nach sexuellen ÜbergriffenZartbitter-Chefin wirft Kölner Kita „grobe Fehler“ vor

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Ursula Enders ist die Leiterin der Beratungsstelle Zartbitter

  • In einer Kita im Kölner Westen ist es wiederholt zu sexuellen Übergriffen von Kindern auf Kinder gekommen.
  • Die Beratungsstelle Zartbitter wurde von betroffenen Eltern eingeschaltet – die Einrichtung wollte mit dem Verein aber nicht kooperieren
  • Zartbitter-Leiterin Ursula Enders erklärt, welche groben Fehler die Einrichtung im aktuellen Fall gemacht hat.

Köln – Der Kölner Verein Zartbitter bekommt jedes Jahr rund 100 Beratungsanfragen wegen sexueller Übergriffe durch Kinder an Kindern. Im Fall des Montessori-Kinderhaus St. Johannes in Bocklemünd wurde Leiterin Ursula Enders von betroffenen Eltern eingeschaltet. Die Einrichtung wollte mit dem Verein nicht kooperieren.

Frau Enders, ein Junge hat über einen längeren Zeitraum mehreren Kindern Stöcke und andere Gegenstände in Scheide und Po gesteckt und diese verletzt. Angestiftet wurde er dabei von einem Mädchen. Muss man daraus schließen, dass diese Kinder selbst missbraucht wurden oder etwa zu Hause Zeuge von Geschlechtsverkehr oder Pornos waren?

Das kann unter Umständen dahinter stecken, aber oft beobachten wir ganz andere Ursachen. Das können allgemeine Gewalterfahrungen sein, etwa im Elternhaus, in der Einrichtung, in der Nachbarschaft oder im Ferienlager. Nicht selten ist die Ursache eine emotionale Vernachlässigung durch Eltern oder pädagogische Fachkräfte. Es kann auch sein, dass ein übergriffiges Kind in jüngeren Jahren selbst Opfer sexualisierter Gewalt durch Kinder wurde und diese Erfahrung jetzt reinszeniert, weil es nicht darüber sprechen kann. Zartbitter kooperiert mit zahlreichen katholischen Einrichtungen sehr gut. Dennoch bemerken wir gerade bei katholischen Einrichtungen häufiger, dass ein sexualpädagogisches Konzept fehlt. Über das Thema wird nicht gesprochen oder es wird mit Verboten gearbeitet. Das heißt: Die Kinder erfahren weder den positiven und lustvollen Umgang mit ihrer sexuellen Neugierde, noch lernen sie, Regeln und Grenzen zu befolgen. Sie können dadurch oft nicht zwischen schönen Körpererfahrungen und unangenehmen unterscheiden. Auch das kann eine Ursache dafür sein, dass – an sich normale – Doktorspiele aus dem Ruder laufen.

Was ist denn zu tun, wenn sexuelle Übergriffe bekannt werden?

Die allererste Maßnahme muss sein, dass Einzelgespräche mit allen Beteiligten geführt werden, um die Ursachen herauszufinden. Wichtig ist, dass spezialisierte Fachleute von außerhalb zugezogen werden, weil in einer solchen Situation wirklich immer tiefe Zerwürfnisse zwischen den beteiligten Gruppen zu beobachten sind. Außerdem ist das Vertrauen der Opfer-Eltern in die Einrichtung zu diesem Zeitpunkt ja zumindest angeknackst. Die Eltern müssen zudem sofort konkrete Hilfen an die Hand bekommen, wie sie ihre Kinder in dieser Situation begleiten können. Also zum Beispiel: Wie gehe ich mit Alpträumen und Schlafstörungen um? Was ist zu tun, wenn sich mein Kind abkapselt? Auch die Erzieherinnen sind verunsichert und brauchen Hilfestellungen. Erst danach sollte ein extern moderierter, gemeinsamer Elternabend stattfinden, wo auch Raum für den Schmerz der Eltern ist. Das ist alles so nicht passiert.

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Da ist also im Umgang mit den Übergriffen in diesem Fall einiges schiefgelaufen.

Da sind mehrere grobe Kunstfehler passiert, weil die fachlichen Standards nicht beachtet wurden. Überhaupt keinen Sinn macht es in diesem Stadium auch, den Kindern „Halt-Stopp-Regeln“ beizubringen. Bei den kindlichen Opfern führt das nur zu Schuldgefühlen, in dem Sinne: Hätte ich nur „Nein“ gesagt, wäre mir das nicht passiert. Dass die Erzieherinnen als Reaktion auf die Unruhe eine Beerdigung der Kita inszenieren, zeigt ja schon, dass dort fachlich einiges im Argen liegt. Das ist psychische Kindesmisshandlung. Völlig unangemessen ist es auch, den betroffenen Eltern zu verbieten, das Gespräch mit den Erzieherinnen zu suchen und sie stattdessen auf eine E-Mail-Adresse des Trägers zu verweisen. Die Einrichtung hat außerdem immer wieder Beweise für die Übergriffe in Form von ärztlichen Attesten verlangt. Das wird aber nicht einmal vor Gericht gefordert. Kommt es zum Prozess, gilt die Aussage eines Kindes als Beweis. Und hier hatten wir unabhängig voneinander Aussagen mehrerer Kinder.

Wie ist denn mit dem übergriffigen Kind umzugehen. Ist es richtig, es in der Gruppe oder der Einrichtung zu lassen?

Wenn man sofort richtig reagiert, lässt sich eine solche Situation in der Regel gut bewältigen. Und dann kann auch das übergriffige Kind in der Gruppe bleiben. Dieses Kind braucht ja selber Hilfe, aber nicht durch ein Frühförderzentrum, wie in diesem Fall geschehen, sondern durch eine auf sexuelle Übergriffe spezialisierte Stelle, die auch eventuelle vorhandene Traumata aufarbeitet. Was überhaupt nicht hilft, ist, dieses Kind rund um die Uhr unter Beobachtung zu stellen, wie es die Kita gemacht haben soll. Das ist eine Stigmatisierung und ist keine Maßnahme, um übergriffiges Verhalten abzustellen.

Der Kita-Träger hat nun die Betreuungsverträge für die Opfer-Kinder gekündigt. Er argumentiert, das Vertrauensverhältnis sei zerrüttet, eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich. Ist eine Kita-Gruppe, in der es solche Vorfälle gab, tatsächlich nicht mehr zu retten?

Wenn die Kita sofort nach Bekanntwerden des ersten Falls, der sich ja schon im April ereignete, richtig reagiert hätte, wäre das mit relativer Leichtigkeit zu bewältigen gewesen und man hätte zu einem stabilen Alltag zurückgefunden. Wenn man aber monatelang wartet und sich die Übergriffe verstetigen, ist das viel schwieriger. Es verfestigt sich dann eine Gruppendynamik mit bestimmten Machtverhältnissen. Dort gibt es dann vielleicht ein, zwei „Chefs“, die mittels sexueller Gewalt andere Kinder unterdrücken. Ist es erst mal so weit gekommen, kann es sinnvoll sein, einzelne Kinder schrittweise in andere Einrichtungen zu vermitteln. Unangemessen ist es auf jeden Fall, den Opfer-Eltern pauschal zu kündigen. Man muss in jedem Fall individuell prüfen, was das Beste ist.

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