Nachruf auf Kölner Dichter„Für die Nachbarn bin ich wohl nur ein verschrobener Kauz“

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Lektüre, Verse, Korrespondenzen - das war der Alltag des Dichters Josef Wilms.

Köln – An der Stelle, an der vor Monaten die verwitterte Dichterklause stand – in Vogelsang, hinter hochgeschossenen Hecken, inmitten  eines verwilderten Gartens – gähnt heute eine leere Baugrube wie ein offenes Grab. Wer da mal wohnte? Der Herr mit dem Rollator lacht: „Dat wor einer, der Summer wie wintersch mit de Pantuffel rumlief.“

Josef Wilms hat das so kommen sehen: „Für die Nachbarn bin ich wohl nur ein verschrobener Kauz. Für die Leute, die mich von früher kennen, bin ich ein Nichtsnutz.“ Er sei halt nur ein „Minderdichter“, einer, den sie nicht für voll nehmen und dessen Verse so wunderlich anmuten wie sein Haus: Die Fensterläden kapriziös in den Angeln, bei heftigem Windstoß wären sie wohl auseinandergefallen, hätte Wilms sie nicht mit Klebeband verstärkt; die  Hausecke mit Einkaufstüten isoliert. Handwerklich, na ja, sei er halt gar nicht begabt: „Minus null.“

Für die Nachbarn: Nichtsnutz, Kauz und Minderdichter

Dafür habe ihm die Gottheit, wie er sagte, etwas anderes gegeben – eine Begabung, die er mit 15 entdeckt: Er schreibt Verse. „Aber dann kam das Leben mit seinem vielfältigen Gerümpel dazwischen und trieb einen immer weiter von dem ab, wozu man sich doch eigentlich bestimmt meinte.“

Mit Mitte 40 räumt er das „Gerümpel“ aus dem Weg, dichtet, komponiert, Lyrik und Lieder, meist in der Nacht: Verse über das Windbruchreh oder die Veilchenschnecke, über den Kahlkopfgeier und den Gelben Hans, über drei Arten Barsche, über Ravel- und Debussy-Etüden oder den vergessenen Dichter Theodor Körner. Mitunter schrieb er auch von sich: vom Einsiedlerkrebs und seiner unerfüllten Sehnsucht nach der Seeanemone.

Ein Leben lang in der Kölner Arbeitersiedlung

Ein „Hieronymus im Gehäuse“ sei er, umgeben „von den mir vorausgestorbenen Dingen meiner einstigen Lebenswelt“. Das Vogelsanger Gehäuse hat er kaum je verlassen und darin alles so belassen, wie es 1936 der Schlossermeister Wilhelm Wilms und seine Frau Anna, Filialleiterin der Konsumgenossenschaft „Hoffnung“ auf der Venloer Straße, in der damals neuen Armen- und Arbeitersiedlung Vogelsang eingerichtet hatten.

„Ich habe eigentlich immer hier gesessen“, erzählte Wilms gerne redselig den Besuchern – in der kleinen Küche mit der abgegriffenen Anrichte, der Eckbank und dem wackelnden Esstisch, am einzigen noch beheizbaren Klüttenofen des Hauses, beim Radio mit den langen Konzertnächten. Mehr Technik hat er nie gebraucht: keinen Kühlschrank („Es ging 75 Jahre ohne“), kein Fernsehgerät („Für so’n Quatsch hab’ ich keine Zeit“).

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Die Stuben hatte er mit seinen Gedichten beklebt und mit den Liednoten, die er dazusetzte. Zwischen verblichenen Tapetenmustern lauerte „Der Östliche Trompetenfisch“, unter rußgeschwärzten Spinnwebschwaden schlief der „Korallenwächter“. Unter der Kuckucksuhr, die Wilms seit 1960, seit dem plötzlichen Tod der geliebten Tante Betty, nicht wieder aufgezogen hatte, stand ein Akrostichon zu lesen:  „Tag für Tag nach Leisem tasten./ Hier und heute ist der Raum./ Einmal nicht vorbeizuhasten;/ Offen sein für Tat und Traum.“ 

Durch alle Prüfungen gefallen

An einem längst vom Holzwurm gehöhlten Klavier fing alles an: der Weg des Sonderlings, der Kriegswaise mit Volksschulabschluss, dem der Stiefonkel die harten Pianistenknöchel auf den Kopf schlug wegen „meiner absoluten Unbegabtheit“; des notorischen Prüfungsversagers und Durchfallers, der nachts die Märchen Waldemar Bonsels verschlang („Die Biene Maja“). Wegen gravierender Unbegabtheit in Mathematik fällt Wilms durch alle Prüfungen. „Ich bin im Leben an Dingen gescheitert, die ich nie gebraucht habe, an Flächen- und Raumberechnungen. Lächerlich. Aber überall fragen sie dich nach deinen Zeugnissen. Und dann bist du ein Nichts.“

Und doch wagt er es, seine diversen Jobs monatelang zu kündigen, um zu lesen: Meyers Techniklexikon von A-Z, Opern- und Konzertführer, Die Welt der Religionen, Einführung in die Philosophie, die Gedichte des Kölner Dadaisten Theodor Baargeld, Barlachs Dramen. Zur Lektüre, die Wilms im „Bücherparadies“ auf dem Eigelstein kauft, gehört auch ein Bildband über Fische. Fasziniert von ihrer Schönheit und sinnigen Eigenart widmet er der Unterwasserwelt humorvoll-witzige Verse: „Immer wieder stets aufs Neue/ preist der Dichter Frühlingsbläue./ Wüsste er von Wasser-Farben,/ bände er uns andre Garben.“ So beginnt seine Hommage auf den Roten Bandfisch.

Baargeld, Barlach und das Techniklexikon

Verdrängtes und Versunkenes, Vergessenes und Bedrohtes, das sind seine Themen: Dichter, die keiner mehr liest, Komponisten, die keiner mehr spielt, Kreaturen, die keiner beachtet. „Für die Menschen Komponiertes/ bleibt oft seltsam unbekannt./ Keine Wissenschaft geniert es,/ wird Bedeutendes verbannt.“ Er selbst hält sich nicht für genial: „Ich bin nur das, was ich schreibe.“ Ohne Einfalt des Herzens ließe sich nichts erschaffen. 

Gedichte für die Kölner Grünen 

Zeit sei der einzige Luxus gewesen, den er sich geleistet habe – um seiner jungenhaften Neugier folgen zu können. Er, der „Weltmeister im Kassieren von Niederlagen aller Art“, schreibt Schlagertexte, Gedichte für Anzeigen-Blättchen, die Kirchen-Zeitung, die Bierzeitung der Altstadtkneipe „Papa Joe“. Als die „Grünen“ 1981 ihr erstes Büro auf dem Gereonswall eröffnen, hängen seine Verse im Fenster des Ladenlokals. Weil ihn der Literaturbetrieb ignoriert, gibt er 1983 seine eigene Zeitschrift heraus, den „Stallgefährten. Blätter für Literatur und andere Gegenstände“,  17 Ausgaben in 18 Jahren, Auflage 500 Exemplare. Die meisten Texte schreibt er selbst, rückt aber auch Gedichte, Lieder, Essays anderer „Minderdichter“ ein.  Den Druck stottert er in Raten ab. „Es gab Wochen, da habe ich nur Tütensuppen gelöffelt. Na wenn schon. Wir waren ja immer arm.“ 

Josef Wilms lebte sein Künstlerleben ohne Wenn und Aber,  mehrmals unglücklich verliebt, blieb er ledig, kinderlos, umgeben von den ihn Vorangestorbenen: der Mutter, die 1941 an Lungenentzündung stirbt; vom Vater, der in den letzten Kriegstagen beim Kölner Volkssturm umkommt; von Tante Betty, die 1960 stirbt. „Das spüre ich ganz deutlich: Die Gegenwart der Toten.“ Es gebe weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur eine Gegenwart, in Traum und Wirklichkeit. „Zeit ist eine Illusion.“ 

Ende der 90er Jahre wird Wilms erstmals zu Lesungen eingeladen, wenige Male auch in Köln, wo man ihn einfach nicht zur Kenntnis nehme.  „Wenn ich tot bin, landet alles auf dem Müll“, fürchtete er. Freunde aber publizieren einen Gedichtband. Die Literaturwissenschaftlerin Katharina Knorr widmet sich ihm in ihrer Doktorarbeit: „Schreiben als Lebensaufgabe. Über das Leben des unerhörten Dichters Josef Wilms“. Die Veröffentlichung hat er nicht mehr erleben dürfen: Josef Wilms starb am 10.11.2020 im Ehrenfelder Johanniter Stift. 

Sein Haus ist verschwunden – eine  Grube wie ein leeres Grab. Den  literarischen Nachlass aber rettet Katharina Knorr für das Kölner Stadtarchiv. Darin finden sich die Verse: 

Ein Kiesel liegt gering am Grund

Ein Kiesel liegt gering am Grund./ Was hat er noch zu hoffen?/ Er träumt und ruht und ist gesund:/ Die Zukunft steht ihm offen!/ So mag es manchen Menschen gehen:/ Sie liegen wie auf Lager./ Sie sind schon zu was ausersehen/ und keineswegs Versager!/ Doch noch ist ihre Zeit nicht reif,/ ihr Los noch nicht beschrieben./ Ihr Stern kriegt spät den hellen Schweif,/ den alle fraglos lieben.

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